
„The Dharma Bums“, neben „On The Road” Jack Kerouacs bekanntestes und beliebtestes Buch, wurde zwar erst nach „On The Road“ im Jahre 1958 veröffentlicht, berichtet aber über Ereignisse aus Kerouacs wilden „Lehr- und Wanderjahren“ Mitte der 50er, bevor der Autor dann am Ende des Jahrzehnts schlagartig berühmt wurde, womit Kerouac nie zurechtgekommen ist. Manche Experten der „Beat Generation“ haben den drei wichtigsten Autoren deshalb Jahrzehnte zugeteilt: Jack Kerouac die 50er, Allan Ginsberg die 60er und William Burroughs die 70er. Was bei der Lektüre von „The Dharma Bums“ erst einmal ins Auge fällt, ist die unglaubliche Direktheit, Authentizität und Spontaneität der Erzählweise. Sowas kann man nicht glaubwürdig erfinden. Sowas muss man schon erlebt haben. Es gibt keinen mir bekannten anderen Autor, der so unvermittelt, echt und autobiographisch erzählen kann. Dagegen kann auch keine noch so gescheite Literaturtheorie anstinken, die mir etwas von geschickt konstruierter Pseudo- oder Fake-Narration erzählen will. Im Zweifelsfall glaube ich Kerouac mehr als jedem ehrenvoll ergrauten Literaturprofessor. In „The Dharma Bums“ ist/wirkt alles wie direkt aus dem wirklichen Leben erzählt, das sind keine erfundenen, sondern am eigenen Leib erlebten Erfahrungen, hier gehen persönlich gelebte Fakten und für den Roman erfundene Fiktionen nahtlos ineinander über. Man liest „real life stories“, die kein anderer als Jack Kerouac so überzeugend zu schreiben vermag. Möglicherweise ist Kerouacs Sichtweise und Schreibstil zutiefst „neuromantisch“. Gefühle, Gedanken, Beobachtungen und Beschreibungen werden nicht reflektiert und gefiltert, sondern sind unmittelbar und naiv. Nur in Goethes „Werther“ erinnere ich mich ähnlich ekstatische und weit ausschweifende Naturbeschreibungen gelesen zu haben. Das ist zwar „Sturm und Drang“, aber der Bogen ist trotzdem schnell von Goethes „Präromantik“ zu Kerouac gespannt. Und dann: wie viele ellenlange Beschreibungen von Essen liest man in „The Dharma Bums“? Und was ist schon authentischer und ehrlicher als Essen! In der Stadt leben die „Dharmagammler“ bei Freunden und schnorren sich durch die Existenz. Häufige Partys und wilde Lyriklesungen mit viel Sex, Alkohol und abstrusen Gedanken verscheuchen die Langeweile und den Mief des Eisenhower-Amerika. Auch die Konzeption von „The Dharma Bums“ als Schlüsselroman trägt zu seiner Authentizität bei. Eigentlich alle Romanfiguren beruhen auf wirklichen Personen: Ray Smith ist Jack Kerouac, Japhy Ryder ist Gary Snyder, Alvan Goldbook ist Allan Ginsberg, Rheinhold Cacoethes ist Kenneth Rexroth etc.
Inhaltlich ist der Roman auch nach über 60 Jahren pure Rebellion, vielleicht sogar noch mehr als damals. Die „Dharmagammler“ arbeiten nicht, haben kein Interesse an neuen Fernsehgeräten und Automobilen, Familie und schnuckligem Reihenhaus am Stadtrand, sind ohne festen Wohnsitz, trampen und springen illegal auf Güterzüge auf, leben schlecht oder nicht integriert am Rande einer städtischen Industriekultur, bewegen sich lieber in der unberührten Natur (die es damals noch mehr gab als heute), sind auf der Suche nach wahrer Spiritualität und wenden sich deshalb vom traditionellen christlichen Glauben ab und fernöstlichen Religionen zu. Alle diese Entscheidungen wären heute noch genauso (und vielleicht sogar noch mehr) revolutionär wie damals im opulenten Eisenhower-Amerika. In „The Dharma Bums“ schafft Literatur wirklich eine Gegenwelt zur bestehenden Gesellschaft und kann den Leser desto mehr überzeugen, weil man weiß, dass die erzählten Geschichten stimmen und nicht nur auf der Schreibmaschinentastatur erfunden worden sind.