Bölls 1963 erschienener Roman „Ansichten eines Clowns“ stammt aus seiner schöpferischsten Phase in den fünfziger und sechziger Jahren und ist einer der großen Klassiker der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vermutlich ist eine solche Einschätzung sogar noch tiefgestapelt. Mit diesen zwei Sätzen hat man eigentlich schon alles gesagt. Muss man denn unbedingt noch seinen Senf dazugeben, wenn es für ein Buch, das überall auf der Welt immer noch die Lehrpläne und Vorlesungsverzeichnisse füllen hilft, schon unzählige Interpretationshilfen und Materialsammlungen gibt? Wahrscheinlich nicht. Und doch ist „Ansichten eines Clowns“ nicht nur Gähnreflexe auslösende Zwangslektüre für zukünftige Deutschlehrer oder was sind das nur für Leute, die mit ihren Literaturkenntnissen Eindruck schinden wollen. Es ist ganz einfach ein gutes und lesenswertes Buch. Die paar Stunden im Leben von Hans Schnier, in denen er sein Clown-Leben Revue passieren lässt, ist meiner Kenntnis nach immer noch die beste literarische Beschreibung der Schattenseiten des Rheinkapitalismus und der Adenauer-Zeit, die ja heute für viele zur Legende geworden sind. Denn die rosa Mär vom Wirtschaftswunderland hat jede Menge Stacheln und Dornen und war vor allem für Künstler eine beschissene Zeit. Hans Schniers Eltern waren beide überzeugte Nationalsozialisten und haben sich in wundersamer Weise zu geizigen Millionären und hinterfotzigen CDU-Wählern gewandelt. Schniers Schreckschrauben-Mama arbeitet bei einem surrealen „Zentralkomitee zur Versöhnung rassischer Gegensätze“. Schniers Papa ist erfolgreicher Braunkohlen-Unternehmer, hat eine Geliebte und überall seine Finger im Spiel. Schniers Bruder Leo wird Priester und ist Teil eines katholischen Bonner Klüngels, in dem Karrieregeilheit, brutaler Materialismus, doppelbödige Moral, Anpassung und Gehorsam den Ton angeben. Sein Fräulein Marie Derkum, mit der er „in Sünde“ und in „wilder Ehe“ zusammenlebte und über welcher ständig das Damoklesschwert des Kuppelparagraphen schwebte, hat ihn für ein „hohes Tier“ verlassen und verbringt gerade die Flitterwochen im päpstlichen Rom mit dem arrivierten katholischen Heribert Züpfer, ekelhafter Vorsitzender eines „Dachverbands katholischer Laien“. Da bleibt Hans Schnier beim Flipperspiel in bester Gesellschaft nur noch Abgang der Fürchterliche. Schniers Karriere als Komiker gerät in die Krise, er rutscht auf der Bühne aus, bekommt keine Auftritte mehr, verfällt dem Suff und endet als Penner auf den Stufen des Bonner Bahnhofs mitten im rheinländischen Karnevalstreiben. Erstaunt hat mich der teilweise sehr persönliche und poetische Schreibstil Bölls in diesem Roman. Normalerweise kenne ich ihn ja eher als bieder und konventionell (Eine solche Kritik sei auch einem Leser erlaubt, der nur wenige seiner Romane gelesen hat). Auch zahlreiche Kommentare zu anderen Schriftstellern und literarischen Werken sowie an manchen wenigen Stellen metafiktionale Elemente fehlen im Roman nicht, mittels derer Böll manchmal über das Schreiben selbst reflektiert. „Ansichten eines Clowns“ ist ein wichtiges Bindeglied zwischen der Trümmerliteratur Wolfgang Borcherts und „Keiner weiß mehr“ von Rolf Dieter Brinkmann. Absolut lesenswert.