Beste Cohen-Biografie
Die Biografie von Sylvie Simmons, die auch in deutscher Übersetzung vorliegt, ist für mich zu spät gekommen. Ich habe sie zu einem Zeitpunkt gelesen, als mein eigenes Manuskript schon im Lektorat war und der Verleger drängelte. „I’m Your Man“ ist zweifellos die beste Cohen-Biografie, die zurzeit greifbar ist. Ich wage sogar zu behaupten, dass das in jahrelanger Arbeit aufwendig recherchierte, sauber dokumentierte und mit viel Liebe geschriebene Buch die nächsten zehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre keinen ebenbürtigen Nebenbuhler haben wird. Sylvie Simmons ist eine der bekanntesten Musikjournalistinnen der Welt und hat mit „I’m Your Man“ einen Meilenstein und ein Meisterwerk vorgelegt. Dennoch wage ich eine Kritik. Das Buch braucht drei Voraussetzungen für eine befriedigende Lektüre, die nicht selbstverständlich sind: Man kennt Cohens Lebensdaten wenig oder gar nicht. Man hat Zeit und Lust ein dickes Buch mit 25 Kapiteln zu lesen. Man ist davon überzeugt, dass biografische Daten in Hülle und Fülle auch Cohens poetisches Werk erschließen helfen. Denn wenn eine, zwei oder alle dieser drei Voraussetzungen abhandenkommen, verflüchtigt sich stufenweise der Überschwang der Begeisterung über Simmons’ Buch, die auch die Cohen-Foren durchweht. Wer wie ich und vermutlich viele andere Cohen-Fans die guten Biografien Nadels und Reynolds schon gelesen hat, findet in Simmons’ Buch bis zum 20. Kapitel („Im Kloster“) kaum Neues. Sicher ist es witzig zu lesen (Kapitel 18), wie Cohen Sean Dixons Katze Hank mit Om-Gesang heilt oder zum „Ameisenflüsterer“ in seiner eigenen Küche wird, aber wenn man all das nicht weiß, geht die Cohen-Welt auch nicht unter. Ich gebe zu, dass ich noch nicht einmal wusste, wer Sean Dixon überhaupt ist. Wem es angst und bange wird, wenn er so umfangreiche Wälzer wie „I’m Your Man“ aufschlägt, kann alternativ zu dem kleinen Büchlein von David Sheppard aus der Serie „Kill Your Idols“ aus dem Jahre 2000 greifen. Es fehlen dort sicher die neuesten Informationen, aber in Ermangelung einer aktuelleren Studie (leider hat es Leonard Cohen noch nicht wie Bob Dylan zu einem „rough guide“ von „penguin“ geschafft) ist die Lektüre von Sheppards Untersuchung trotzdem ein guter Einstieg in die Cohenologie für Leute, die in ihrem Leben noch anderes tun müssen als Biografien zu lesen. Dass biografische Daten beim Verständnis von Cohens Liedern, Gedichten, Romanen helfen, steht glücklicherweise außer Frage. Natürlich geht gute Kunst wie die von Cohen aber weit über sein Leben hinaus. Immer neue Gespräche mit Suzanne Vaillancourt (Kapitel 7) sind letztendlich nicht der richtige Ansatz, um Cohens Lied „Suzanne“ besser zu verstehen. Eine umfassende, nicht vom Leben auf die Kunst schielende, sondern direkt bei Cohens Kunst ansetzende Werkanalyse wie die von Christopher Ricks und Michael Gray für Bob Dylan fehlt bisher für den kanadischen Ausnahmekünstler.
(02.10.2012)
Sylvie Simmons-I’m your man. Das Leben des Leonard Cohen
Lang lebe Rolf Dieter Brinkmann!
Ich bin natürlich ein Fan von Brinkmanns Schriften, und Fans sind bekanntermaßen verblendet. Der 1975 veröffentlichte Gedichtband „Westwärts1&2“, dessen Originalversion ein wohl vom schlechten Gewissen umgetriebener „Rowohlt Taschenbuchverlag“ dreißig Jahre nach Brinkmanns tragischem Tod seiner geschätzen Leserschaft nicht mehr vorenthalten konnte, bietet eine völlig unzumutbare und unleserliche „Materialsammlung“ von genialisch hoch inspirierten Texten und banalen, für den bloßen Moment gedachten flüchtigen, teilweise völlig abstrusen Überlegungen. Das Buch erinnert natürlich auffällig an Brinkmanns andere, ein paar Jahre zuvor geschriebene, unter Roman durchgehende „Materialsammlung“ namens „Rom, Blicke“. Gerade die siebzigseitige, bisher nicht pubblizierte Hasstirade auf Deutschland am Ende von „Westwärts1&2“ (in Form von frei assoziativer, mit Photos entstellter Prosa) lässt sich der literarische Gourmet genüsslich auf der Zunge zergehen. Natürlich musste das Vaterland den krisengebeutelten Brinkmann dafür mit dem Unfalltod in London bestrafen. Jetzt, nachdem aller Zorn verraucht ist, wollen die Schlaumeier, bevor die Urheberrechte verfallen, noch einmal kräftig Reibach mit Brinkmanns Leid und Unheil machen. Liest diese Zeilen auch eigentlich irgendjemand, der Anthologien für Schulbücher zusammenstellt: bitte einige Gedichte aus „Westwärts1&2“ für das Kapitel „Nachkriegslyrik“ vorsehen. Brinkmann hätte sich Schadensersatz von Deutschland verdient!
(29.11.2011)
Rolf Dieter Brinkmann – Westwärts 1 & 2
Unter den Teppich gekehrter Klasiker
Rolf Dieter Brinkmanns Buch „‚Keiner weiß mehr“‚ ist einer der ganz großen, aber leider oft unbeachtet gebliebenen Klassiker der deutschen Nachkriegsliteratur. In jeder Anthologie finden sich die Werke von Böll, Enzensbeger, Grass, Rinser, fast immer fehlen die Prosa und Lyrik von Rolf Dieter Brinkmann. Für den deutschen Kulturbetrieb ist er wohl auch heute noch zu radikal, zu böse, zu ehrlich, zu pornographisch, zu rebellisch, zu unakademisch. Schade. Rolf Dieter Brinkmann hat kompromisslos und ohne jedes Schielen in Richtung Massenpublikum bis zu seinem frühen Tod einen faszinierend experimentellen Schreibstil weiterentwickelt. Dass dieser seltsam-tragische Unfalltod auch mit den großen persönlichen und finanziellen Problemen in London 1975 zu tun hat, macht ihn mir nur noch sympathischer. ‚“Keiner weiß mehr“‚ gehört zu den hundert wichtigsten Romanen der deutschen Literaturgeschichte.
(12.12.2011)