Frau Jenny Treibel

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Im Realismus haben deutschsprachige Bücher kaum mal Furore gemacht. Andere Länder sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel attraktiver gewesen. Frankreich zum Beispiel (Balzac, Flaubert), aber auch England (Dickens), Nordamerika (Twain) und Russland (Tolstoi, Dostojewski). Es ist unter Fachleuten vermutlich viel darüber spekuliert worden, woran das liegen könnte. Die nackte Wirklichkeit im Stile der damals sich immer stärker verbreitenden Tageszeitungskultur zu beschreiben, war dem deutschen Bildungsbürger wohl einfach zu banal und hässlich. Goethe mit seinem Wilhelm Meister warf noch Jahrzehnte nach seiner Veröffentlichung Ende des 18. Jahrhunderts einen langen dunklen Schatten (man denke etwa an Kellers Der Grüne Heinrich, der als ein Klassiker des Realismus gilt, aber eigentlich überhaupt keine realistische Prosa ist). Auch die Romantik mit ihrem gefühlsgeschwängerten Innerlichkeitskult prägte die deutsche Literatur zu lange und zu tief, als dass eine schnelle Kehrtwendung in die entgegengesetzte Richtung möglich gewesen wäre (Heinrich Heine ist ein gutes Beispiel für diese ungelöste Schizophrenie). Komischerweise kommen mir beim Realismus deshalb nur Autoren in den Sinn, die historisch überhaupt nicht dazu gehören. Büchner etwa (Woyzeck), der eine schwer irgendwo einzuordnende Anomalie darstellt. Oder der vom Marxismus beeinflusste Hauptmann, der aber zu spät kommt und von der Literaturgeschichte in die Schublade des Naturalismus gesteckt wird. Und dann gibt es eben noch Theodor Fontane, den man im Ausland eigentlich nur für seine Effi Briest kennt, die ja auch Fassbinder verfilmt hat, und vielleicht noch für seine schon dreißig Jahre zuvor veröffentlichten Wanderungen durch die Mark Brandenburg. 1894, zwei Jahre vor Effi Briest, hat Fontane den (zumindest hier in Italien) relativ unbekannten Gesellschaftsroman Frau Jenny Treibel geschrieben. Der Roman ist gespickt mit dem Berliner und Brandenburgischen Lokalkolorit der damaligen Zeit und plätschert (im Gegensatz zur dramatischen Entwicklung Effi Briests) recht seicht die Spree entlang. Diesmal geht es nur am Rande um die säbelrasselnden Offiziere und Junker mit ihren riesigen Latifundien, die in der damaligen preußischen Gesellschaft die lautesten Geräusche und alle sensiblen Seelen unglücklich machten, es geht bei Frau Jenny Treibel ausschließlich um die Großstadt Berlin in der Gründerzeit und um die damaligen Gewinner und Verlierer. Die Fabrikbesitzer (Treibel) kletterten nämlich auf der sozialen Leiter immer weiter nach oben, strebten nach Einfluss in der nationalen Politik und waren interessiert an einer standesgemäßen Heirat ihrer Sprösslinge. Das Bildungsbürgertum (Schmidt) hatte in dieser neuen Industriekultur immer weniger zu vermelden, auch weil es viel zu sehr veralteten klassischen Bildungsidealen verhaftet blieb und nicht die Energie fand, sich zu erneuern. Corinna Schmidt, die Tochter des gutmütigen, aber wenig finanzstarken Gymnasialprofessors, versucht im Roman mit Leopold anzubandeln, bekommt aber gegen den Widerstand seiner schwergewichtigen und sentimentalen Mama, der Kommerzienrätin Jenny Treibel, keinen Fuß in die Tür der Kreuzberger Treibelschen Stadtvilla. Die geldgierige Kommerzienrätin hat für ihren Sohnemann längst die bleichgesichtige Hildegard und zweite Schwiegertochter aus der stinkreichen und angesehenen Hamburger Konsulsfamilie der Munks ausgesucht.

Frau Jenny Treibel

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