BoBoKo (8)

Wir fahren mit Wilma Wildlife mit dem Zug von Hildesheim nach Hannover, anschließend in der Stadtbahn Linie 4 zur Universitätsbibliothek und sitzen einige Stunden mit ihr im dortigen Lesesaal. Es passiert nichts weiter, aber der Bildungsstand des Lesers geht steil nach oben durch die Decke. Man weiß jetzt, wer Tullio Cianetti ist und dass man in Venetien die Süditaliener für faul und „unanstellig“ hält.

Das megalomane Projekt der Nationalsozialisten, eine Autofabrik und Stadtsiedlung unweit Braunschweigs aus dem Boden zu stampfen, traf schon kurz nach der Grundsteinlegung im Februar 1938 auf enorme Schwierigkeiten. Die Bautätigkeit Albert Speers in Berlin, die Reichswerke Hermann Göring im nahen Salzgitter und vor allem der Westwallbau, für den im Herbst 1938 3000 Arbeitskräfte über Nacht vom Volkswagenwerk abgezogen wurden, dezimierten die Arbeitslosenlisten und machten es den Arbeitsämtern unmöglich, geeignete Bau- und Industriearbeiter bereitzustellen. Die aus strukturschwachen Gebieten wie Friesland, Schlesien und Sachsen gerufenen Arbeiter reichten für die Großbaustellen bei weitem nicht aus. Erst die engen Kontakte zwischen der Deutschen Arbeitsfronf (DAF) zur Parallelorganisation des italienischen Achsenpartners Confederazione Fascista dei Lavoratori dell’Industria (CFLI) lösten teilweise das Dilemma. Nachdem im Sommer 1938 eine erste italienische Delegation unter Tullio Cianetti das embryonale Volkswagenwerk und die entstehende Stadtsiedlung besucht hatten, wurden Vereinbarungen getroffen, italienische Arbeiter in großem Stil an das Volkswagenwerk und die Reichswerke Hermann Göring zu vermitteln.  Ohne sie hätten die Baustellen des Werks und der Stadt nicht weitermachen können. Die geplanten Kontingente von einigen tausend Arbeitern wurden speziell in den ersten beiden Jahren um ein Mehrfaches übertroffen, als die Dimensionen der Großbaustellen und die zur Schau gestellte modernste Technologie eine regelrechte Euphorie unter den Arbeitern auslösten. Dabei spielten, mehr noch als die großmäulige Propaganda auf beiden Seiten, welche die grenzüberschreitende kameradschaftliche Arbeitsleistung und die ideologische Blutsbruderschaft der Achse Rom-Berlin betonte, die guten deutschen Arbeitslöhne und die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in Italien eine entscheidende Rolle. Das Kaufkraftgefälle zwischen dem Deutschen Reich und den nordöstlichen Regionen Oberitaliens, aus denen der Großteil der italienischen Arbeiter nach Fallersleben und Salzgitter aufbrach, war extrem: Der Lohn eines Facharbeiters in Deutschland war zwei- bis dreimal so hoch wie der eines Arbeiters aus Venetien. Arbeitstage von mehr als 10 Stunden, Überstunden, Samstags- und Sonntagsarbeit waren die Regel, die nicht selten 100 bis 150 Reichsmark Wochenverdienst einbrachten. Die schlechten Lebensbedingungen (Wohnbaracken, Ernährung, fehlende Freizeiteinrichtungen etc.) wurden in Kauf genommen, da auf beiden Seiten stillschweigend und fälschlich davon ausgegangen wurde, dass die Gastarbeiter aus Italien nur kurzfristige Lücken in einer durch die Kriegsvorbereitungen bedingten Ausnahmesituation des deutschen Arbeitsmarkts schlössen. Trotzdem kam es immer wieder zu Beschwerden der italienischen Arbeiter, vor allem über die ungewohnte und schlechte Ernährung von Seiten der Kantinenküche, wo Teigwaren und italienischer Rotwein im Speiseplan nicht vorgesehen waren und teuer auf eigen Kosten aus Italien besorgt werden mussten. Auch die Gruppendynamik in den Wohnbaracken und Kolonnen schlug immer wieder Funken, vor allem als in späteren Jahren immer mehr Süditaliener nach Fallersleben kamen, die in den Augen ihrer norditalienischen Kollegen als Drückeberger und Tollpatsche galten. Im Januar 1943 erreichte es Benito Mussolini, dass die italienischen Arbeitskräfte in ihr Heimatland zurückgezogen wurden. Ihre privilegierte Stellung als verbündete Auslandsarbeiter verloren die Italiener dann vollständig, als Mussolini im Juli 1943 zurücktrat, Italien die Fahnen wechselte und gegen Hitler-Deutschland Position bezog. Alte Ressentiments gegen die Italiener konnten sich jetzt in Deutschland ungehemmt Bahn brechen, die von einem auch rassisch begründeten Überlegenheitsdünkel herrührten, der kleingeistig angeblich preußische oder deutsche Tugenden beschwor: Aufrichtigkeit, Disziplin, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit.

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