T.C. Boyles „The Tortilla Curtain“ (im Deutschen mit dem Titel „America“)
Nach der Lektüre des Buchs kämpft man mit zwiespältigen Gefühlen herum und weiß nicht so recht, ob man eine positive oder negative Rezension schreiben soll.
Pro
Der ziemlich lange Roman ist sehr flüssig und gekonnt erzählt, so dass beim Lesen keine Langeweile aufkommt und man sich gern von Kapitel zu Kapitel weiterhangelt. Vor allem hat er einen fast schon visionären und prophetischen Gehalt, wenn man bedenkt, dass 1995 (erste Veröffentlichung) das Thema der illegalen Einwanderer noch gar nicht unter den Nägeln brannte, aber hier schon in seiner ganzen Dramatik zur Sprache kommt. Der politische Rechtsruck, der Kalifornien, Nordamerika, aber eigentlich die gesamten westlichen Industrienationen seit ein paar Jahren erfasst hat, wird hier schon beschrieben und analysiert. Gerade der wohlhabende weiße Mittelstand vor allem in der Figur des Delaney Mossbacher, der vom toleranten, liberalen Intellektuellen am Ende des Romans zum rassistischen Rächer in Donald Trumps „America First!“-Manier und mit Pistole in der Hand mutiert, ist sehr überzeugend beschrieben und beruht wohl auch auf eigenen realen Welterfahrungen T.C. Boyles.
Kontra
Was allerdings viel weniger überzeugt ist die Geschichte des illegalen mexikanischen Einwandererpaars. Sicher würde mir Boyle entgegenhalten, dass ihre Erlebnisse auf wahren, von ihm recherchierten Gegebenheiten basieren (dafür spräche auch die Widmung), dennoch ist es recht mühsam, an das viele Unglück und die dröhnenden Schicksalsschläge zu glauben, die auf die beiden niederprasseln. Candido wird angefahren, zweimal ausgeraubt und (bis auf eine einzige Glückssträhne) wie der letzte Dreck behandelt und ausgebeutet, America wird auf ihrem wilden Campingplatz im Canyon vergewaltigt, bringt ihre (aufgrund der Vergewaltigung? blinde) Tochter schlimmer als die Muttergottes zur Welt und schiebt im feindlichen Nordamerika noch nicht einmal eine Zehenspitze zwischen Tür und Angel. Am Ende des allzu sehr wie ein Action-Film aus dem nahen Hollywood überdramatisierten Romans reicht dann keine verheerende Feuersbrunst, es muss sofort im Anschluss auch gleich eine Sintflut biblischen Ausmaßes her. Ziemlich dürftig und enttäuschend sind auch die letzten Szenen des Romans. Wer überlebt hier eigentlich und mit welchen Zukunftsperspektiven? Candido? America? Das Baby Soccoro (das immerhin Namensgeberin des dritten Kapitels ist)? Was passiert mit Delaney Mossbacher? Ist die Wohnsiedlung durch das Unwetter weggespült worden? Aporie und ein schlechter Geschmack im Mund machen sich breit.
Auch der Schreibstil Boyles erscheint auf einen ersten Blick (und in deutscher Übersetzung) etwas hausbacken und simpel. Es fehlen die Anspielungen, Assoziationen und Bemerkungen zwischen den Zeilen, die ein Textgewebe komplexer, vieldeutiger und interessanter nähen. Aber vielleicht bin ich da zu ungerecht. Ist der Text schwierig und komplex geschrieben, setzt der Katzenjammer beim Leser ein, der sich darüber beschwert, dass der Autor zu wenig leserfreundlich schreibt. Liest sich der Text flüssig, beschwert sich der nörgelnde Leser über fehlende Komplexität. Quengeln tut er in jedem Fall.
Ich glaube ich muss mindestens einen zweiten Roman von T.C. Boyle lesen, um meine Gedanken besser zu ordnen.