Die Marquise von O …

Heinrich Kleists „Marquise von O …“ (1810) ist erstmal ein sprachliches Juwel, das man sich gern beim Lesen auf der Zunge zergehen lässt. Anfang des 19. Jahrhunderts scheint die deutsche literarische Sprache an einem nie mehr sonst erreichten Höhepunkt sowohl beim Reichtum des eingesetzten Wortschatzes als auch bei der Qualität der Satzkonstruktion angekommen zu sein. Danach ging es nur noch bergab. Soweit zum Positiven. Ich gehe allerdings davon aus, dass schon damals vor 200 Jahren nur ein Teil der deutschen Leser (30 % der Gesamtbevölkerung?) der komplizierten Wortwahl und den verschlungenen Satzverschachtelungen zu folgen in der Lage war. Heute ist es vermutlich etwas besser (50 % der Gesamtbevölkerung?), aber es bleibt trotzdem wahr, dass Kleists Schriften eine Kunst für die Eliten und nicht für das gemeine Volk war und ist. Eine solche Einschätzung gilt noch mehr für die Thematik als für die Form. Was damals ein mächtiger Skandal und Todsündenfall war (ein uneheliches Kind, Vergewaltigung während einer Ohnmacht, inzestuöse Zustände etc.) lockt heute in unseren abgebrühten und emanzipierten Zeiten eigentlich keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervor. Es ist für den heutigen Leser sehr schwer, irgendeine Relevanz zu diesen fernen Zeiten einer Adelsgesellschaft und ihren sozialen Regeln (vor allem der Stellung der Frau) herzustellen. Und es bleibt sicherlich ernüchternd festzustellen, dass in weiteren 200 Jahren die zukünftigen Leser ähnlich große Befremdlichkeiten bei der Analyse unserer jetzigen Gesellschaft haben werden.

 

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