Ich habe nie wirklich einen Draht zu klassischer Musik gefunden, schon gar nicht zu moderner klassischer Musik. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich irgendwann auf Hans Werner Henze stoße, war also eher klein. Oberflächlich kennengelernt hatte ich ihn bei einigen Radiointerviews auf RAI3 Anfang der neunziger Jahre, als ich für kurze Zeit in der Toskana wohnte und er dort alljährlich in Montepulciano sein Festival Cantiere Internazionale d‘ Arte veranstaltete. Als ich mich dann jetzt ein Vierteljahrhundert später näher mit Ingeborg Bachmanns „Liedern auf der Flucht“ beschäftigte, tauchte der inzwischen verstorbene Hans Werner Henze wieder aus meinem Erinnerungsnebel auf. Die beiden Künstler Bachmann und Henze waren zeit ihres Lebens eng befreundet und lebten in den fünfziger Jahren sogar einige Zeit in Neapel zusammen. Jetzt wollte ich mehr über ihn wissen und bestellte mir (in Ermangelung von Alternativen) auf dem Gebrauchtebüchermarkt die dicke Biographie von Jens Rosteck, die für meinen kleinen Wissendurst allerdings viel zu üppig angelegt ist und die ich deshalb nur in Auszügen gelesen habe. Henze gehört ja zu den nicht wenigen deutschen Künstlern, die aus dem restaurativen Adenauer-Deutschland nach Italien flüchteten, war allerdings konsequenter als die anderen und blieb sein ganzes Leben dort, die letzten Jahrzehnte auf dem Gut La Leprara in Marino bei Rom. Der offen homosexuelle, 1926 geborene Henze, der den ganzen Wahnsinn von Hitlerdeutschland noch selbst ausleben musste, steht für mich für Lebensqualität, Konsequenz, Rebellion und Courage, die der Wendehals-Generation meiner Väter im Regelfall gefehlt hat. Bob Dylan hat in seinem Lied Lenny Bruce geschrieben: „Lenny Bruce was bad, he was the brother that you never had“. 1926 wurden Allen Ginsberg, Fidel Castro und Miles David geboren. In Deutschland James Krüss, Sigfried Lenz und Erich Loest. Von Rebellion kein Hauch. Ein paar böse und rebellische Henzes mehr hätten Deutschland nur gutgetan.