Hans Haller steckt fest und hat schlechte Laune. Er erhält eine unorthographische Nachricht von Boboko, einem Rom aus Neapel. Hans Haller weiß nichts über Rom, Sinti und Zigeuner, gibt aber die Hoffnung nicht auf. Er antwortet auf die Mail und bekommt schnell eine Gegenantwort. Matt Scheibe weiß auch nichts über Zigeuner, kennt aber die drei Bios-Revisionen des IBM 5150 und schwadroniert über den Untergang der abendländischen Kultur.
Als Hans Haller nach Berlin zurückkommt, hat er es erst einmal mit einem leichten Landregen und einer mittleren depressiven Verstimmung zu tun. Rainy day, dream away. Mit seinen vier Besuchen in Neapel hat er seine Munition verschossen. Ideen, um die Mädchen zu finden, hat er keine mehr. Es hilft jetzt nur noch viel Glück und Spucke, die im wirklichen Leben leider noch weniger feuchtfröhlich fließen als hier im Roman. Vielleicht hätte er ja eine Kerze für Sankt Januarius im Dom von Neapel anzünden sollen. Als er im Bürocomputer seine Mails sichtet (zu mehr digitale Kompetenz reicht es bei ihm nicht), ist da auch eine mysteriöse Nachricht von einem gewissen Boboko: I’M BOBOKO. WE NOW WERE THEY ARE. Alles in Großbuchstaben und Makkaroni-Englisch in die Tastatur geplärrt. Auch der Server macht Hoffnung auf mehr: boboko@infernonet.it. Boboko? Spuckt ein indonesisches Café in Nordamerika, irgendwelche bauchige Bambuskörbe und den Hinweis aus, dass Boboko ein gebräuchlicher männlicher Vorname unter den Rom-Sinti sei. Zigeuner in Neapel? Gipsies from Egypt? Gschwerl vom Mittelmeer, das keine Mittel mehr außer Lug und Trug hat. Schweher, althochdeutscher Schwiegervater mit Mundgeruch und die ganze bucklige Verwandtschaft. Übles Gesindel. Der Mensch ist gut, aber die Leut‘ san a Gschwerl. War das nicht ein Spruch von Karl Valentin? Hans Haller antwortet kurz und in professionellem Basic English: I will come to Naples next Sunday and I can meet you Monday.
Am nächsten Tag fährt Hans Haller nach Steglitz, wo sein alter Studienfreund Matt Scheibe einen Retro-Computer-Laden mit dem wenig originellen Namen „Classic Computers Berlin“ betreibt. In letzter Zeit hatten sie sich nur wenig gesehen, weil Hans immer weniger Lust auf die zwei sich ständig wiederholenden Argumente ihrer Unterhaltungen hatte: Was zum Teufel interessierten ihn die Varianten eines Xebec-Controllers, XT-IDE-Karten direkt aus Nordamerika oder WSUS-Scripts für antike Betriebssysteme? Noch schlimmer als solche Schrullen war aber der pathetische Tonfall, den Matt mitunter annahm, wenn er über den Untergang der abendländischen Kultur schwadronierte. Keine guten Bücher mehr seit Jahrzehnten, Rolf-Dieter Brinkmann ruhe in Frieden, Marshall McLuhan hatte schon in den Sechzigern vorausgesehen, dass die Bilderkultur des Fernsehens die jahrtausendalte Schriftkultur des westlichen Kulturraums auslöschen würde. Das klassische Erziehungsideal eines verantwortlichen, reifen, kompletten Individuums war schon seit der Moderne zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr installierbar. Unbekanntes Dateisystem. Kein Zugang möglich. Fragen Sie Ihren Systemadministrator, ob die digitale Rechteverwaltung funktioniert. Und es wird alles nur noch schlimmer und kommt immer doller. Die Eisberge schmelzen, Wasserbomben lassen uns ersaufen, ein paar Jahrhunderte noch und die Hälfte aller uns bekannten noch lebenden Arten geht über den Jordan. Überall nur scheinheilige Absichtserklärungen und Lippenbekenntnisse. Venedig, spätestens 2100 tot wie Stein in den Orkus runtergespült. Amsterdam kannste dir in der Haschpfeife rauchen. Die piefigen Norddeutschen aus Hamburg und Sylt unter Geiern und Wasser. Von wegen Küstenschutzmaßnahmen und Erhöhung der Deiche. Kennst du Byung-Chul Han? Ne, ne, nicht den durchgeknallten Kim Jong-un, sondern den Philosophen auf der anderen Seite der Demarkationslinie. Unsere oberflächliche visuelle Scheinkultur macht uns zu vereinzelten egoistischen Zombies, für die Solidarität und eine mit anderen geteilte Gemeinschaft nicht mehr möglich ist. Egomanische Nerds und Hikikomoris in abgedunkelten Räumen mit Klimaanlage vor riesigen 8k-Computerbildschirmen. Das war der Wortschwall, der über Hans hinwegrollte, als er im „Himali“ in der Crellestraße in seinem Mystic Salad herumstocherte. Also sprach nicht Zarathustra, sondern Matt Scheibe. Und er hörte nicht auf. Literatur stehe vor ihrer Selbstauflösung, weil sie ihre Bedeutung als Bildungsträger verloren habe. Hans nahm noch einen Schluck dunkle Schneider-Weiße und hatte die Nase und den Mund zu voll, um zu antworten. Sein Handy brummte und zuckte auf dem Esstisch. Es war eine Whats-App-Nachricht von Boboko:
I’M AGHEN BOBOKO. THEY KALL ME LITTLE WARRIOR. WE KAN MEET IN THE BAR APOCALISSE IN THE PIAZZA INTERNAZIONALE.
Wieder in lauten Großbuchstaben. Langsam kommt Schwung in die Chose. Haller fällt das Horoskop ein, das er am Morgen auf dem Bildschirm im Bus gesehen hat. Mäusekino. Katzenjammer. Low Definition. Schlimmer kann‘s für den Wassermann nicht kommen. Fünf mögliche Punkte für Liebe, Arbeit und Gesundheit. Gesamtpunktzahl 15. Haller hatte jeweils nur einen einzigen. Gesamtpunktzahl 3. So war sein Leben immer gewesen. Ganz wenig oder gar nichts.