
Muss man Kant lesen? Das ist zugegeben eine dumme Frage: natürlich nicht! Außer man belegt vielleicht einen Leistungskurs in Philosophie, hört Vorlesungen über ihn an der Universität oder man hat sonst wie professionell mit dem Supermind aus Königsberg zu tun. Interessanter ist da vielleicht schon die Frage: soll man Kant lesen? Meine Blitzantwort lautet: jein! Nein, weil man als Normalsterblicher (sprich philosophische Dumpfbacke) sich durch die vielen hundert Seiten der „Kritik der Reinen Vernunft“ nur mühsamst durchquälen und nur wenig verstehen würde. Kant gehört zweifellos in die Kategorie der sadistischen, frustverursachenden Schriftsteller: ihn zu lesen ist Lektürefolter, vielleicht nicht so schlimm wie bei Hegel, aber immer noch lupenreine Lesefolter, mentales Waterboarding. Nur Masochisten lassen sich freiwillig foltern. Kants Biografie weckt auch kein Interesse: immer nur Königsberg, nichts von der großen, weiten Welt gesehen, verbeamteter Philosophieprofessor in der Gnade oder Ungnade des preußischen Königs, die Königsberger stellen die Uhr nach seinem täglichen Nachmittagsspaziergang, hat der vielleicht einen an der Waffel? Aber Kant gehört andererseits zu etwas, was man früher einmal Allgemeinkultur genannt hat, die zu definieren niemand mehr in der Lage ist. Und dann ist Kant ja ein großer Revolutionär der Philosophiegeschichte, trotz seines extrem langweiligen Lebens. Mitten in der Aufklärung spricht er von den Grenzen der menschlichen Erkenntnis und sagt, dass das „Ding an sich“ nicht erkannt werden kann.
Was es für eine Bewandtnis mit den Gegenständen an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivität unserer Sinnlichkeit haben möge, bleibt uns gänzlich unbekannt.
(§ 8 Allgemeine Anmerkungen zur transzendentalen Ästhetik)
Unser Verstand formt die Sinneseindrücke nach Kants Schema der Kategorien zu Begriffen und ordnet sie in einem entsprechenden Raster von Urteilen. Die Erkenntnis richtet sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände richten sich nach den möglichen Formen der Erkenntnis.
Genauso interessant sind Kants Überlegungen zu den Begriffen des nicht Erkennbaren, die er erst „transzendentale Ideen der reinen Vernunft“ und später einfach (angelehnt an Platon) „Ideen“ nennt. Die menschliche Vernunft stellt sich automatisch Fragen zu abstrakten Begriffen (Ideen), zu denen er genauso automatisch keine Antworten findet (Unsterblichkeit der Seele, Freiheit, Gott). Wenn die Grenzen der sinnlichen Erfahrung überschritten werden, entsteht das, was Kant „transzendentalen Schein“ nennt, sprich Illusion von Erkenntnis. Wir können von solchen Ideen wie Weltanfang, Weltende, Teilbarkeit des Ganzen, Willensfreiheit nie etwas wirklich wissen, weder, ob sie existieren, noch, ob sie nicht existieren.
Es sind Sophistikationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals völlig loswerden kann.
(Der transzendentalen Dialektik /Zweites Buch/ Von den dialektischen Schlüssen der reinen Vernunft)
Zwackt und äfft? Solche transzendentalen Ideen sind also ein bisschen wie die Mücken und Wespen im Sommer, ungeliebte Gäste, die man gerne vertreiben möchte, die aber immer wieder zurückkommen. Speziell die Idee der Willensfreiheit sollte Kant weiterbeschäftigen. Auch wenn man nie wissen kann, ob es diese Willensfreiheit gibt oder nicht gibt, ist außer der Kausalität in der Natur auch eine Kausalität der Freiheit gegeben. Der Mensch hat einen „intellegiblen Charakter“, wie es Kant ausdrückt. Er erkennt die Notwendigkeit des „Solllens“, kann spontan entscheidend eine ethische Forderung wollen und realisieren und damit die Naturkausalität durchbrechen.
Ganz am Ende seines Buchs schreibt Ludwig eine Kurzzusammenfassung der „Kritik der Reinen Vernunft“:
Die Metaphysik fragt als Transzendental-Philosophie
nach den Bedingungen der Möglichkeit
von Erkenntnis. Zuerst wird die sinnliche
Wahrnehmung untersucht und dabei zwei Formen
reiner sinnlicher Anschauung gefunden:
Raum und Zeit. Mit ihnen werden alle Empfindungen
geordnet und anschließend vom
Verstand zu Begriffen geformt. Bei der anschließenden
Untersuchung des Denkens werden
die Kategorien gefunden. Sie verbinden die
Begriffe zu Urteilen und werden vom Verstand
wie Stempel in die sinnlichen Wahrnehmungen
hineingeprägt. Unser Verstandeswissen bleibt
aber mit allen diesen Möglichkeiten nur auf die
Welt der Erscheinungen beschränkt.
Will der Verstand, indem er sich zur schließenden
Vernunft entfaltet, unsere Welt der Erscheinungen
überfliegen und nach dem Wesen
der Wirklichkeit an sich greifen, verwickelt er
sich in Widersprüche und gerät ins Trudeln. So
muß er aufgeben und sich mit der Einsicht begnügen,
daß die Ideen als Zeichen des Absoluten
nicht bewiesen werden können, daß aber
auch nicht auf sie verzichtet werden kann.