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Neapel schlüpft aus dem Bilderbuch der Vorurteile. Boboko lässt sich kurz blicken. Der Leser erfährt, wie Betty und Netty auf der Piazza Garibaldi gekidnappt werden.
Es ist die typische süditalienische Gluthitze, als die zwei Lehrerinnen mit ihren Schülern in Neapel Capodichino ankommen. Als das Grüppchen hinten und vorne die Treppe des Low-Cost-Fliegers hinuntersteigt, haben alle das Gefühl, dass gerade eine Backofenluke geöffnet wird. Sie sind insgesamt 23, aus zwei verschiedenen Abiturklassen, inklusive der zwei Lehrerinnen. Sie fahren mit dem Bus Curreri vom Flughafen nach Meta di Sorrento, wo sie im Feriendorf Paradise Village eine günstige Unterkunft gefunden haben. In der Woche, die sie dort verbringen, machen sie den ganzen Mist, der seit Ewigkeiten und noch länger in den in den in Granit gemeißelten Reiseführern steht. In Pompei ist es zwischen den alten Steinen so heiß, dass einige Schüler Kreislaufprobleme bekommen und sie die Führung abbrechen müssen. Sie setzen sich dann alle in den Schatten in eine Cafeteria und trinken stilles, kaltes Mineralwasser. Das kostet nicht viel. Am Dienstag machen sie eine Rundreise auf einem Restaurantschiff, das von Castellammare di Stabia über Capri nach Amalfi vor und zurück tuckert. Vor der Insel Capri macht das Schiff kurz Halt. Man hat die Möglichkeit, im Meer zu schwimmen. Ein paar Schüler hüpfen in das kobaltblaue Wasser wie Außerirdische in ein ihnen unbekanntes Element. In Amalfi steigen sie die hohe Treppe zur Cattedrale di Sant’Andrea hoch und denken, dass es sich um eine Heilige, nicht um einen Heiligen handelt. Alle, die an den glauben, werden zumindest selig. Oder kommen zumindest ins Paradies. Das ist doch schon mal was. In Neapel gehen sie erst ins Museo Archeologico und dann einmal die Via Toledo rauf und runter bis zur Galleria Umberto. Beware of pickpockets. Sorrent ist folkloristisch und Touristennepp. In der Via San Cesareo gibt es jede Menge dumme Ami-Touris, Ledergürtel aus China und rote Hörnchen gegen den bösen Blick. Zeigefinger und kleinen Finger spreizen und nach unten richten. Die Neapolitaner glauben tatsächlich an den ganzen Scheiß. Das Abendessen im Feriendorf in Meta di Sorrento, als sie erschöpft von ihrem Tagesausflug zurückkommen, ist auch nur Mittelklasse. Jetzt sitzen sie nach einer Woche Ferien wieder im Bus Curreri, der sie auf der SS145 zum Flughafen nach Neapel bringen soll. Doch irgendetwas funktioniert nicht. Der Bus hat Probleme mit dem Motor. Jetzt steht der Fahrer sogar hinten und öffnet bei laufendem Motor die Motorhaube. Dann erklärt er, dass er sie leider nicht nach Capodichino bringen könne, erstattet ihnen den Fahrpreis zurück und bringt alle zum Bahnhof der Vesuviana nach Meta. Glücklicherweise haben sie kein Zeitproblem. Zwei Kioske im Familienbetrieb. Der unfreundliche Sohn drinnen im Bahnhofsgebäude. Die unfreundliche Mutter draußen in einem anderen Behelfskiosk auf der Straße. Macht nichts, man kann auch trotz unfreundlicher Leute weiterleben. Dann durch den langen Tunnel bis nach Vico Equense, in dem die Entlüftungsturbinen ein Geräusch machen, das fast so schlimm wie Sirenen bei Fliegeralarm ist. In Neapel kommen sie an der Piazza Garibaldi an, laufen die hässlichen blaugrauen Billigfliesen entlang, auf denen man bei Nässe so schön ausrutscht. Kennen die kein Akemi-Antirutsch-R9? Oben vor dem McDonalds an der Ecke stehen Zigeunerfamilien mit kleinen Kindern, die um Geld betteln. Braungebranntes Gesocks. Slum-Feeling. Alles ist abgeranzt und stinkt: das Ergebnis der langjährigen Neugestaltung des Hauptbahnhofgeländes. Vor dem ehemaligen Postamt liegen Penner auf dem schwarzen Gummiboden und trinken Tavernello aus Tetrapaks. Die Typen, die hier herumlungern, scheinen Komparsen für einen Gangsterfilm aus den siebziger Jahren. Die Klasse überquert im Wilde-Sau-Verfahren mit ihren Rollkoffern den belebten Corso Novara. Sie drängt sich in die enge Straße, die zum Ende des Platzes führt, wo das Hotel Cavour steht. Linkerhand ist die Haltestelle des Flughafenbusses, der inmitten des ständigen neapolitanischen Allzeit-Chaos den Corso Giuseppe Garibaldi nach Capodichino hochfährt. Hier in Neapel ist alles so, wie man es schon vorher weiß: Pralles Leben mit Dauernerveffekt, Provinz pur, alles super-hässlich und Asbach-uralt. Meine Pizza ist die beste in der ganzen Stadt. Meine Oma kocht die beste Tomatensoße. Die Leute lachen zu viel, am besten machst du einen weiten Bogen um sie. Neapel scheidet die Geister: entweder hasst man die Stadt oder man liebt sie. Der Ali-Bus zum Flughafen ist den feinen Pinkeln aus dem hohen Norden vor der Nase weggefahren. Die brave Betty und die naive Netty aus der 12B haben Hunger. Sie fragen ihre Lehrerinnen Frau Mommsen und Frau Saitensprung, ob sie sich schnell noch einen Döner Kebab holen können. „Okay, aber macht schnell. Der nächsten Bus kommt gleich.“ Die zwei Mädchen bugsieren sich gutgelaunt und kichernd in die Via Torino in Richtung Norden. Betty ist blond, lange Haare, T-Shirt, Büstenhalter, der nichts zu halten hat, Hotpants. Sie liebt japanische Mangas und Boybands aus Südkorea. Netty ist trotz ihres niedlichen Namens überhaupt nicht nett. Sie ist klein, schwarz, kurzhaarig, oft schlecht gelaunt. Ihr Idol ist Sophia Thomalla. Im Musikgeschmack schwankt sie unentschlossen zwischen Justin Bieber und Shakira. Sie heißt eigentlich Annette Pölzin und hat eine unerträgliche Fistelstimme. Beim Imbiss El Quods geht es dann ganz schnell. Ein neuer weißer Audi A5 Sportback prescht aus einer Parklücke, reißt die rechte Hintertür auf. Boboko rast aus dem Imbiss, beginnt die völlig überraschten Mädchen nach vorne zu schubsen und drückt sie auf die Rücksitze des Audi. Er knallt die Hintertür zu, beschleunigt, der Wagen biegt mit quietschenden Reifen rechts ab in die Via Firenze, dann links in den Corso Novara und die Via Arenaccia Richtung Autobahn. Im Fernsehen haben wir das alles schon tausendmal gesehen.