La cura (Aus: L’imboscata)
Tesserò i tuoi capelli come le trame di un canto
Dieser Jahrhundertsong, der einen längeren Kommentar als üblich benötigt, hat zu Blitz-Kritiken geführt, welche die schon über ein halbes Jahrhundert aktive Karriere des sizilianischen Liedermachers auf die zwei Etiketten Cuccurucuccù-Battiato und La-Cura-Battiato reduziert sehen wollten.[1] Auch wenn solche Formeln viel zu grobmaschig sind, um einen komplizierten Künstler wie Battiato durch den Nürnberger Trichter zu schütten, tragen sie dennoch auch einen Funken Wahrheit in sich und verführen mich zum wiederholten Male dazu, ein (wieder einmal provisorisches) Resümee von Battiatos Karriere zu ziehen. Die Jahre von 1979 bis 1981 waren die kreativsten und folgenreichsten in seiner Entwicklung und erinnern ein wenig an die 3 Alben Bob Dylans 1965 und 1966. Ein regelrechtes Feuerwerk an aufbrausender Inspiration hatte da bei den beiden Künstlern gezündet. „La Cura“ ist der einzige Song einer immerhin 20-jährigen Zusammenarbeit mit Manlio Sgalambro, der italienische Popgeschichte geschrieben hat und zu einem breiteren Massenpublikum durchgedrungen ist. Danach ist in Battiatos Karriere nicht mehr sehr viel Aufregendes passiert (nicht jeder Battiato-Fan wird mir hier beistimmen). Aber manchmal wird ja ein einziges Lied, das die Zeiten überdauert, zur bunten Oase inmitten der Sahara. Wenn man sich abschließend noch die Chartplatzierungen von Battiatos Alben mit ihrem zugegeben zweifelhaften Aussagewert ansieht, bemerkt man erst einmal die Flaute nach 2012. Aber die zum Teil immer noch hohen Ränge ab dem Album „Gommalacca“ (1998) täuschen darüber hinweg, dass in diesen Alben kaum mehr einem größeren Publikum bekannte und die schnellen Zeiten überdauernden Lieder zu finden sind. Auch im letzten Nummer-1-Album „Apriti Sesamo“ (2012) fehlen definitiv Songs, die heute noch jemand kennt (außer den eingefleischten Battiato-Fans natürlich).
Doch solche Bilanzen sind eigentlich Vorgeplänkel und Abschweifungen. Wie nähert man sich nun einem Meisterwerk wie „La Cura“ an? Wenn man ein paar Interpretationsversuche im Internet überfliegt, versteht man schnell, dass das Lied im Regelfall als Liebeslied verstanden worden ist. Ein lyrisches Ich kümmert sich zärtlich, ausschließlich und mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet um ein lyrisches Du und heilt es von allen Gebrechen, Notlagen, Beschränkungen und sonstigen Negativitäten. Denkt das Texterduo Sgalambro/Battiato hier an eine erotische Beziehung zwischen Mann und Frau? Dafür sprächen etwa die zärtlich-sinnlichen Verse Tesserò i tuoi capelli come le trame di un canto, die ohne Übertreibung sicherlich zu den besten der gesamten italienischen Popmusikgeschichte gehören. Oder geht es vielmehr um die spirituelle Liebe zwischen Gott und dem Menschen, die griechische ἀγάπη, die neutestamentliche göttliche Liebe, das Hohe Lied der Liebe des Heiligen Paulus, oder einfach die uneigennützige christliche Nächstenliebe und caritas, die der Bedeutung des italienischen Wortes cura sehr nahe kommt? So würden die Verse aus dem Superman-Comics verständlich, wenn eine nach physikalischen Gesetzen unmögliche Überwindung der Grenzen von Schwerkraft, Raum, Zeit und Licht beschworen wird. Möglicherweise steht auch ein gnostisch-esoterisches Konzept hinter dem Lied. Der göttliche Teil des Menschen (Seele) kommuniziert mit dem gebrechlichen Körper, der dem physikalischen und psychischen Verfall anheimgegeben ist und verheißt Erlösung. Gern wird von den mehr oder weniger seriösen Battiato-Exegeten auch auf den französischen Dichter Charles Baudelaire und sein Hauptwerk „Les Fleurs du Mal“ (1857) hingewiesen. Die bei einem ersten Hören kaum verortbaren fiori bianchi des Liedes stünden im Gegensatz zu den (schwarzen) Blumen des Bösen und überwänden die Perspektivlosigkeit und Verzweiflung der Weltsicht Baudelaires.[2]
*********************************************************************************
Wenn man dann weiterforscht und etwas Zeit ins Land geht, damit sich die Spreu vom Weizen trennen kann, stellt man fest, dass über dieses Lied so viel geschrieben worden ist, dass man instinktiv zu einer Reaktion neigt, die eine (verstümmelte) Verszeile aus dem Lied selbst vorschlägt: ti porterò soprattutto il silenzio […]. Glücklicherweise hat der Zahn der Zeit lange genug an den aufgeregten hermeneutischen Zuckungen genagt, so dass man sich heute „La Cura“ etwas abgeklärter annähern kann. Ausgangspunkt jeder Interpretation bleibt zwangsläufig das Büchlein von Giuseppe Pulina, das trotz seines für einen Philosophen wenig konzisen, Schaum schlagenden Schreibstiles und zahlreicher einfallsloser und unübersichtlicher Abschnitte viele (alle?) Fäden des enigmatischen Wollknäuels freilegt.[3]
Die interpretatorischen Anstrengungen bei „La Cura“ haben grundsätzlich drei Hauptschneisen für das Verständnis des Liedes geschlagen: die meisten Hörer wollten aus dem Lied eine Botschaft der Liebe heraushören und können sich dabei auf Interviews von Battiato selbst berufen:
Es ist ein Lied, für das sich jeder eine eigene Bezugsperson auswählen kann: auch einen Vater, eine Mutter, ein Kind. Die Liebe hat nicht ausschließlich mit Sexualität zu tun.[4]
Eine zweite, viel kleinere Schule hat das Lied religiös interpretiert und als Dialog zwischen Gott und dem Menschen verstanden.[5] Ein dritter Interpretationsansatz beschäftigt sich mit dem philosophischen Fundament des Songs, das auf einer lateinischen Fabel von Hyginus ruht, die von Martin Heidegger aufgegriffen und konzeptualisiert worden ist.[6] Darüber hinaus gibt es noch zahlreiche andere Sichtweisen, die allerdings eher Außenseiter- und Minoritätspositionen besetzen, etwa die Sichtweise des Liedes als Dialog zwischen Seele und Körper oder (personifiziertem) Tod und Mensch.
*********************************************************************************
Das Verständnis von „La Cura“ als Liebeslied bietet sich spontan an. First thought, best thought. Das Lied hat eine klare Dreierstruktur, wo in einem ersten Teil die Symptome der (eingebildeten) Krankheit des lyrischen Gesprächspartners spezifiziert werden. Der kurze kryptische zweite Teil unterbricht das Hauptthema, das dann im dritten Teil wieder aufgenommen wird, wenn vor allem die positiven Folgen der „Behandlung“ angesprochen werden. In drei Versen im dritten Teil hat das Lied eine auffällig erotische Komponente, die an ein Funken schlagendes Liebesverhältnis zwischen Mann und Frau denken ließen und möglicherweise auf eine Beschreibung wie im Hohelied Salomos des Alten Testaments verweisen, wo erotisch-körperlich-sinnliche Elemente sich mit anderen mehr spirituellen und geistigen Aspekten der Liebe vermengen. Der Stil von „La Cura“ ist pathetisch und selbstsicher. Das lyrische Ich weiß, wovon es spricht, strotzt vor Stolz und kann in der auffälligen Form des italienischen Futurs Ratschläge geben und Aussagen zur Zukunft machen. Die Versprechungen, die es macht, scheinen zwar unhaltbar, aber für eine Liebesbeziehung trotzdem brauchbar, wo die normalen (physikalischen und moralischen) Regeln nicht mehr gelten und alles möglich scheint. Marmor, Stein und Eisen bricht. Das Blaue wird vom Himmel heruntergelogen, die Balken sind durchgeborsten. Die Abschaffung der Kategorien von Raum und Zeit, die Überwindung der Materie und Schwerkraft, Wurmlöcher und Hyperraum lassen Kants und Einsteins Moleküle in ihren Gräbern in der Gruft des Doms von Kaliningrad und in der Luft von Princeton überlichtschnell rotieren. Der gesunde Menschenverstand läuft Amok. Hatte nicht Ludwig Wittgenstein geschrieben: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen? Eine solche Amour fou muss nicht unbedingt nur sexuell dominiert sein, man könnte auch an eine Beziehung Mutter-Kind, Arzt-Patient und Meister-Schüler denken, wo die nicht-erotischen Elemente der Liebe stärker spürbar sind. Vielleicht hat sich die im heutigen Nordmazedonien geborene und in Kalkutta verstorbene Mutter Teresa mit ähnlichen Worten an die Obdachlosen und Kranken in den indischen Sterbehäusern gewandt. Dennoch lassen sich grundsätzliche Zweifel an einer solchen Interpretation von „La Cura“ als Liebeslied nicht vollständig aus dem Weg räumen. Ein Liebeslied, das so auffällig medizinisch und psychotherapeutisch daherkommt und jeden erwarteten verbalen Liebesschwur vermeidet, ist eigentlich keines mehr. Und wäre zudem die große Ausnahme, denn Sgalambro hat sich in der besten Tradition Schopenhauers in seinen Werken wenig „romantisch“ und erbaulich zum Thema „Liebe“ geäußert. So liest man etwa in seinem Buch „Anatol“ (1990):
Die Liebe ist der oberflächlichste Teil des Menschen. Ein Hauch von Schminke, die Haarfarbe, ein Kleid, die Form der Nase … In Wirklichkeit ist die Idee der Liebe, oder besser ihre hohe Wertschätzung, eine Bürde, die unsere Intelligenz belastet.[7]
Der kurze, fünf Verse lange Break zwischen dem ersten und dritten Teil des Liedes hat den Interpreten und Liebhabern des Liedes erhebliches Bauchgrimmen verursacht. Es gibt zwar einige, mehr oder weniger überzeugende Deutungsversuche, doch wirkliches Licht ins Dunkel haben auch diese nicht gebracht, so dass handwerkliche Schwächen hinter der kryptischen Textfinsternis vermutet werden dürfen. Warum plötzlich der nordamerikanische Bundesstaat Tennessee erwähnt wird, bleibt möglicherweise auf ewig Battiatos und Sgalambros Geheimnis. Auch die Träume, die schneller als Adler das Meer überqueren, fliegen ins Leere und werden zu Findlingen in der Wörterwüste. Ob diese Bilder wirklich auf Battiatos fundamentale Überzeugung der Wiedergeburt verweisen, die natürlich überall auf der Welt (auch im entfernten Tennessee), in jeder Form und zu jeder Zeit stattfinden kann, wie Giuseppe Pulina glaubt[8], überzeugt nicht mehr als Fabrizio Sebastianis Ansicht, dass Tennessee ein geheimnisvolles esoterisches Anagramm sei, das allerdings kein Mensch zu kennen scheint.[9] Marian Rejewski lebt leider nicht mehr. Etwas einfacher verständlich und auch kontextgebundener sind wahrscheinlich die fiori bianchi, die gut Hochzeitsblumen sein können und ein Lied von Mogol (Giulio Rapetti) zitieren, das Jean Francois Michael (Yves Roze) 1969 gesungen hat.
*********************************************************************************
Der zweite große Interpretationsansatz ist religiös fundiert (was gemeinsame Schnittmengen mit dem Verständnis von „La Cura“ als Liebeslied nicht ausschließt). Die wichtigste und detaillierteste Analyse dazu stammt von Fabrizio Sebastiani: „‚La Cura‘ di Franco Battiato: una preghiera al contrario (analisi critica al testo della canzone)” und ist leider heute nur noch ziemlich mühsam und augenschädigend als Blog zu lesen. Einleitend muss dazu gesagt werden, dass dieser christlich-biblische Ansatz Sebastianis nur stückweise überzeugt und oft allzu penetrant nach Weihrauch in der Sakristei mieft. Ich möchte den Leser deshalb hier nicht mit den endlosen Bibelzitaten Sebastianis foltern und habe seinen langen Aufsatz, der „La Cura“ als invertiertes Gebet mit Gott als lyrischem Ich und Sprecher versteht, stark zusammengestutzt und nur einige seiner Grundgedanken über den Rundengong hinaus gerettet. Eine Rechtfertigung für diese Abholzung christlichen Wildwuchses habe ich auch darin gefunden, dass Sgalambro und Battiato nur schwer in ein christliches Korsett gezwängt werden können. Sgalambro war sicher kein gläubiger Christ, eher schon ein skeptischer Atheist und nihilistischer Zyniker. Noch stark in der Bildungstradition des 19. Jahrhunderts verhaftet, hat er trotzdem immer wieder Ausflüge in die Religionsgeschichte und die Metaphysik unternommen. Bei Battiato haben wir längst gesehen, dass auch er kein Hardcore-Sonntagsgottesdienstgänger ist und sich spirituell stärker an fernöstlichen Religionen als am Heiligen Paulus und Pio von Pietrelcina orientiert. Der Atheismus Sgalambros und die Esoterik Battiatos passen somit nur mit viel Fantasie zur christlichen Überinterpretation Sebastianis, die aber trotzdem einer der Basistexte zum Verständnis von „La Cura“ geworden ist, den man lesen sollte.
Ti proteggerò dalle paure delle ipocondrie
dai turbamenti che da oggi incontrerai per la tua via
LK 12,23-23: Und er sagte zu seinen Jüngern: Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Das Leben ist wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung.
Ob das delle in Wirklichkeit nicht eine Textschwäche und eigentliche dalle ist (wie später auch in delle tue manie) erscheint plausibel. Gott heilt von allen Ängsten (eingebildeten) Krankheiten und Verwirrungen.
Dalle ingiustizie e dagli inganni del tuo tempo
Ps 111,7: Die Werke seiner Hände sind gerecht und beständig, all seine Gebote sind verlässlich.
Jedes Zeitalter hat andere Ungerechtigkeiten. Es beseitigt zwar einige davon, aber es entstehen andere neue. Nur Gott (die absolute Liebe) hat das Allheilmittel.
dai fallimenti che per tua natura normalmente attirerai
Jes 1,18: Kommt her, wir wollen sehen, wer von uns Recht hat, spricht der Herr. Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie Wolle
Der Mensch als von der Erbsünde gezeichneter Dauerbösewicht, der Niederlagen nicht vermeiden kann.
Ti solleverò dai dolori e dai tuoi sbalzi d‘umore,
dalle ossessioni delle tue manie
Mt 11,28-30 Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht.
Sollevare ist das berühmte Hegelsche aufheben: beenden, aufbewahren, erhöhen. Der Schmerz wird als konstituierender Bestandteil der menschlichen Existenz definiert.
Supererò le correnti gravitazionali
lo spazio e la luce
per non farti invecchiare
Joh 16,33: Dies habe ich zu euch gesagt, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt seid ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: Ich habe die Welt besiegt.
Die physikalischen und andere, an die Materie gebundenen Naturgesetze gelten für Gott nicht.
E guarirai da tutte le malattie,
perché sei un essere speciale,
ed io, avrò cura di te.
Mt 8,7 Jesus sagte zu ihm: Ich will kommen und ihn gesund machen.
Jes 43,2 Wenn du durchs Wasser schreitest, bin ich bei dir, wenn durch Ströme, dann reißen sie dich nicht fort. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt, keine Flamme wird dich verbrennen.
Jes, 43,4 Weil du in meinen Augen teuer und wertvoll bist und weil ich dich liebe, gebe ich für dich ganze Länder und für dein Leben ganze Völker.
Der Mensch als Krone der Schöpfung, der eine Spezialbehandlung verdient hat. Ist er nicht vielmehr eine Fehlentwicklung und ein Fremdkörper in der Evolutionsgeschichte? Er hat es in gerade einmal 200 Jahren geschafft, das Ökosystem der Erde zu zerstören.
Vagavo per i campi del Tennessee
come vi ero arrivato, chissà
Non hai fiori bianchi per me?
Più veloci di aquile i miei sogni
attraversano il mare
Joh 3,8 Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.
Bei den kryptischen fünf Versen des Breaks geht auch der endlosen Weisheit Fabrizio Sebastianis die Puste aus. Dass hier der Heilige Geist brausen soll, ist zumindest genauso fragwürdig wie die oben erwähnte These Pulinas von der Wiedergeburts-These. Um höflich zu schweigen beim Gefasel Sebastianis von den weißen Blumen als Sinnbildern der Heiligkeit und den Adlern als Symbolen der christlichen Ikonografie für das Johannes-Evangelium.
Ti porterò soprattutto il silenzio e la pazienza
Sach 2,17 Alle Welt schweige in der Gegenwart des Herrn. Denn er tritt hervor aus seiner heiligen Wohnung.
Kol 3,12 Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld!
Stille und Geduld sind zweifellos zwei Tugenden, die in der postindustriellen Welt wenig gelten. Wer am lautesten schreit, hat Recht. Zeit ist Geld. Je schneller man am Drücker ist, desto mehr kann man verdienen.
Percorreremo assieme le vie che portano all’essenza.
Ex 3,14 Da antwortete Gott dem Mose: Ich bin der „Ich-bin-da“. Und er fuhr fort: So sollst du zu den Israeliten sagen: Der „Ich-bin-da“ hat mich zu euch gesandt.
Die italienische, lateinisch-stämmige essenza hatten wir schon im Lied „E Ti Vengo a Cercare“ angetroffen und auf die Verbindungen zum esoterischen System Georg Ivanovich Gurdjieffs hingewiesen. Es ist ein wenig peinlich, wenn jetzt dasselbe metaphysische Konzept von Sebastiani in einem rücksichtslos christlichen Sinne aufbereitet wird. Man müsste vor allem erst einmal nachweisen, dass Battiato ein streng gläubiger, dogmatisch denkender Christ im Sinne Joseph Ratzingers ist, was der sizilianische Sänger immer vehement verleugnet hat. Seltsamerweise taucht dann in den Anmerkungen des Aufsatzes Sebastianis zum Stichwort „Esoterik“ unerwarteterweise der Name des griechisch-armenischen Esoterikers auf: Die Esoterik gehört zu den Hauptinteressen Battiatos, insbesondere folgt er der ungewöhnlichen Person Georg Ivanovich Gurdjieff. Man ist baff. Wie das alles zusammenpassen soll, weiß nur der Liebe Gott.
I profumi d‘amore inebrieranno i nostri corpi
la bonaccia d’agosto non calmerà i nostri sensi
Tesserò i tuoi capelli come trame di un canto
Conosco le leggi del mondo, e te ne farò dono
Hld 5,1 Ich komme in meinen Garten, Schwester Braut; ich pflücke meine Myrrhe, den Balsam; esse meine Wabe samt dem Honig, trinke meinen Wein und die Milch. Freunde, esst und trinkt, berauscht euch an der Liebe!
Hier spürt man, denke ich, in den ersten 3 Versen recht auffällig einen arabisch-biblischen Einfluss und archaischen Tonfall. Was genau mit den Gesetzen der Welt gemeint ist, bleibt unklar. Wenn damit Intelligenz, Wissenschaft und Gewissen angesprochen werden, wie Sebastiani meint, können sie nicht im Gegensatz zur Göttlichen Weisheit stehen. Es wird schwierig, weil das semantische Feld Welt (mondo) im Regelfall im Neuen Testament stark negativ besetzt ist. Wie kann Gott negative Werte als Gaben bringen?
Ti salverò da ogni malinconia
perché sei un essere speciale ed io avrò cura di te…
io sì, che avrò cura di te.
1 Kor 13,5-8 Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig. Sie ereifert sich nicht, sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf. Sie handelt nicht ungehörig, sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach. Sie freut sich nicht über das Unrecht, sondern freut sich an der Wahrheit. Sie erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand. Die Liebe hört niemals auf.
Hier schließt sich der Kreis mit dem Anfang des Liedes. Negative Gedanken (Traurigkeit, Melancholie, Depression) werden durch positive Spiritualität geheilt.
*********************************************************************************
Der dritte große Interpretationsansatz[10] basiert auf dem kulturgeschichtlichen Verständnis des lateinischen Wortes cura, das heute zwar homonym im Italienischen weiterexistiert, aber im Laufe der Jahrtausende seine Bedeutung eingeschränkt hat. Heute bedeutet es im Italienischen nur noch zwei Dinge: Aufmerksamkeit, Sorgfalt einerseits und (medizinische) Behandlung andererseits. Das gleichnamige lateinische Wort cura hatte noch eine weitere Bedeutung im Sinne von Besorgnis, Unruhe, die heute im Italienischen verloren gegangen ist. Das deutsche Wort Sorge hat erstaunlicherweise den lateinischen Ursprung erhalten. Sorge ist sowohl negativ auf sich selbst bezogen sich um jemanden/etwas Sorge(n) machen, besorgt sein, das heißt ein Gefühl von Unruhe und Angst, aber auch Fürsorge, das auf die Mitmenschen ausgerichtete Bemühen um jemandes Wohlergehen. Überhaupt ist das Wortfeld Sorge im Deutschen sehr komplex. Cura war im alten Griechenland und Rom die allegorische Göttin der Fürsorge und Pflege. Eine (bis zur Entdeckung Martin Heideggers) relativ unbekannte Fabel mit dem Titel „Cura“, die Teil des mythologischen Handbuchs Geneaologie aus dem 2. Jahrhundert nach Christus ist und wohl auf griechische Ursprünge zurückgeht, bietet historisch die erste Basis für ein Verständnis des Begriffs im Altertum. Als Autor wird Hyginus angegeben, wobei nicht klar ist, ob es sich dabei um Gaius Julius Hyginus handelt, oder um einen unbekannten Hyginus Mythographus. Da der Inhalt vermutlich vielen Leser(inne)n unbekannt ist, ist es vielleicht sinnvoll, den Originaltext in deutscher Übersetzung zu zitieren:
Eines Tages ging die Göttin Cura (Sorge) über einen Fluss. Da sah sie vor sich auf der Erde eine Schicht Lehm. In Gedanken versunken nahm sie ein Stück davon und formte daraus eine Gestalt. Während sie noch betrachtete, was sie da geschaffen hatte, trat Jupiter (der Göttervater) hinzu. Cura bat ihn, dass er der Gestalt Geist verleihe. Das tat Jupiter gern.
Als aber Cura dem neuen Wesen ihren Namen geben wollte, widersprach Jupiter ihr und verlangte, dass das Wesen seinen Namen tragen solle. Während sie so miteinander stritten, erhob sich Tellus (Erde) und auch sie verlangte, dass das Gebilde ihren Namen tragen solle, weil sie doch ein Stück ihres Leibes dafür gegeben habe. Weil die drei sich nicht einigen konnten, riefen sie Saturn an, damit er ihren Streit entscheiden solle. Und Saturn sagte schließlich: Weil der Geist dieses Wesens von dir, Jupiter, stammt, sollst du bei seinem Tod den Geist empfangen. Weil du, Tellus, den Körper geschenkt hast, sollst du den Körper erhalten. Weil aber Cura es gebildet hat, soll sie es besitzen, solange es lebt. Weil dieses Wesen aber vom Boden der Erde (lateinisch: humus) genommen ist, soll es Mensch (lateinisch: homo) heißen und so von der Erde seinen Namen erhalten.
Im christlichen Mittelalter war die Seelsorge (cura animarum), die heute ein rein religiöser Begriff ist, wichtiger Teil der damaligen Medizingeschichte und Philosophietradition und umfasste weite Bereiche der heutigen Natur- und Geisteswissenschaften. Literarische Genres wie die Trost- und Sterbeliteratur oder die Kasuistik lieferten konkrete praktische Ratschläge für das moralisch richtige Verhalten, um die Seelen vor dem Feuer der ewigen Verdamnis zu bewahren.
Goethe lässt ganz am Ende des Faust II im 5. Akt in der Szene „Mitternacht“ vier graue Weiber (Mangel, Schuld, Sorge, Not) auftreten, die, aus beißenden Rauchschwaden heraustretend, die Funktion eines schlechten Gewissens haben und von denen nur die Sorge bis zu Faust durchdringt. Der greise, hundertjährige Faust hatte nämlich in seinem egoistischen Tatendrang die Hütte des alten Ehepaars Philemon und Baucis abfackeln lassen und damit den Pakt mit Mephistopheles überspannt. Jetzt bemächtigt sich die Sorge des Gewissens von Faust und liest ihm im flinken, vierhebigen Trochäus die Leviten:
Ewig ängstlicher Geselle
Stets gefunden, nie gesucht
So geschmeichelt, wie verflucht –
Hast du die Sorge nie gekannt?
Faust verzichtet auf Magie und Teufel, erblindet und akzeptiert sein gebrechliches hohes Alter. Nicht mehr das Ego und die Selbstsucht bestimmen sein Handeln, sondern die politische Sorge um die Gemeinschaft, der er sich in der knappen, ihm noch verbliebenen Lebenszeit widmet.
Man kann jetzt einwenden, dass Battiato und Sgalambro sehr wahrscheinlich diese Szene aus Goethes Faust II noch nicht einmal kannten, als sie „La Cura“ komponierten. Sicherlich war sich aber gerade Sgalambro der langen philosophischen Tradition und philologischen Finesse des Begriffs Cura bewusst. Der geniale Rohdiamant des Einfalls brauchte den Schliff des Meisterjuweliers. Für den deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889 – 1976) war das Konzept der Sorge zentral für sein schwieriges philosophisches System. Die Welt ist in Sorge, einfach deswegen, weil sie von allem Anfang an in ein Geflecht von Beziehungen mit Dingen und Menschen eingebunden ist. Heidegger, der berüchtigt für seine schwierige Terminologie ist und sich leider unrettbar in den Nationalsozialismus verstricken ließ, versuchte in seinem Hauptwerk „Sein und Zeit“ (1927) mit dem Begriff Dasein diese Idee der Sorge terminologisch besser zu fassen. Dasein ist ja im Deutschen erst einmal neutral ein Synonym für Existenz, aber dann auch gleichbedeutend mit Sorge: ich bin für jemanden da. Ich sorge mich um jemanden. Authentisches Dasein basiert auf der Sorge für andere. Auch Heidegger verwendet das Wort Sorge in seinem doppelten Sinn: als egoistische Besorgnis, einen respektierten Platz in der Gesellschaft zu ergattern, was allerdings Kompromisse, Benimmregeln und Trivialität mit sich bringt, und als altruistische Fürsorge für den Planeten Erde und die Mitmenschen.
© Wolfgang Haberl 2020
[1] Siehe etwa das Interview mit Giulia Santerini in der Zeitschrift „Capital Tribune“ aus dem Jahre 2004.
[2] In Baudelaires „Journaux intimes“ (1887) liest man : Pour guérir de tout, de la misère, de la maladie et de la mélancolie …
[3] Pulina, Giuseppe: La cura. Anche tu sei un essere speciale. Civitella in Val di Chiana. 2010.
[4] Interview mit Giovanni Pianeta in der Zeitschrift „Sorrisi e canzoni” vom Oktober 1996.
[5] Der wichtigste Beitrag dazu ist von Fabrizio Sebastiani aus dem Jahre 2008: http://la-cura-franco-battiato.blogspot.com/2008/07/critica-e-considerazioni-sulla.html. Leider funktioniert das Herunterladen als pdf-Datei nicht mehr (Stand Dezember 2020).
[6] Ausgangspunkt für diese Gedanken ist die Webseite: http://www.unamusicapuodire.it/significato-canzone-la-cura-franco-battiato (Stand Dezember 2020). Ein Autor war für mich nicht ausfindig zu machen. Auch Giuseppe Pulina beschäftigt sich im Kapitel „La Cura del Filoso. Affezioni“ mit Hyginus und Heidegger. Siehe: Pulina, Giuseppe: a. a. O. Seiten 69-74.
[7] Sgalambro, Manlio: Anatol. Mailand. 1990. Seiten 79-80. Zitiert nach: Pulina, Giuseppe: a. a. O. Seite 60.
[8] Pulina, Giuseppe: a. a. O. Seiten 25-32.
[9] Das liest man in den abschließenden „note“ des Artikels von Fabrizio Sebastiani: http://la-cura-franco battiato.blogspot.com/2008/07/critica-e-considerazioni-sulla.html (Stand Dezember 2020).
[10] Die folgenden Ausführungen nehmen in manchen Teilen Bezug auf den Aufsatz von Reich, Warren Thomas: History of the Notion of Care, der in einer zweiten Fassung 1995 in der „Encyclopedia of Bioethics“ auf den Seiten 319-331 veröffentlicht wurde: https://care.georgetown.edu/Classic%20Article.html.
(Aus meinem Manuskript © Wolfgang Haberl 2020)