Roberto Savianos 2006 veröffentlichtes Buch „Gommora“ schlug vor zehn Jahren wie eine Bombe in Italien ein. Noch nie hatte jemand so chirurgisch präzise, detailbesessen und faktentreu über die Geschäfte der organisierten Kriminalität Neapels berichtet. Man hatte als Leser keine Wahl: entweder war Saviano klinisch verrückt und hatte sich alles in einem pathologischen Delirium selbst erfunden oder die beschriebenen Sachverhalte beruhten auf minutiösen Recherchen vor Ort und stimmten haargenau. Für Saviano änderte sich mit diesem Buch alles. Der Siebenundzwanzigjährige wurde zum Starschrifsteller und verdiente mit dem Bestseller so gut, dass er nie mehr ein anderes Buch wird schreiben müssen. Filme, Fernsehserien, selbst Theaterstücke entstanden aus den Geschichten in „Gommora“, das in Deutschland als Sachbuch, in Italien aber als Roman (Fiktion) verkauft wurde. Roberto Saviano erschien schlagartig als einer der wichtigsten Meinungsmacher Italiens, der nicht weggeschaut, sondern mutig seine Finger in die offenen Wunden seines Landes und speziell Neapels gelegte hatte. Man sah in Roberto Saviano einen neuen Pasolini des 21. Jahrhunderts. In ihm pochte das säkularisierte, moderne Gewissen der Nation. Er tauchte in Fernsehsendungen auf und schrieb viel gelesene Artikel in wichtigen italienischen Tageszeitungen. Doch der blitzartige Ruhm hatte auch seine Schattenseiten. Er erhielt so viele Morddrohungen, dass ihm der italienische Staat ständigen Begleitschutz gewährte. Nicht nur die dauerpräsenten Leibwächter erzeugten Paranoia, überhaupt machten ihm Hype und Rummel das Leben schwer, so dass Saviano seit Herbst 2014 in die anonyme Metropole New York umgezogen ist, wo ein Star mehr das Kraut nicht fett macht. Silvio Berlusconi und seine Regierung, die bei Erscheinen des Buchs noch todsicher im Sattel der Macht saßen, versuchten vergeblich, dem Bestseller den Wind aus den Segeln zu nehmen und deklassierten ihn als heillos „übertrieben“ oder als plump „falsch“. Doch der „Nestbeschmutzer“ Roberto Saviano hatte den Nagel auf den Kopf getroffen und zuckende Nerven freigelegt. Es waren vielleicht nicht die fünfzig Millionen wie bei Elvis Presley, aber auch ein paar Millionen weniger „Gommora“-Fans auf der ganzen Welt konnten nicht irren. Die Wahrheit war, dass Saviano nicht über-, sondern untertrieben hatte, denn ein einziger Journalist allein konnte unmöglich die vielfach verzweigten Machenschaften der organisierten Kriminalität Neapels auf etwas mehr als 300 Seiten dokumentieren. Sie waren in Wirklichkeit noch viel schlimmer, als sie Saviano in seinem Buch beschrieben hatte.
„Gommora“ ist in zwei Teile und insgesamt elf Unterkapitel gegliedert, hinter denen allerdings kein organischer Entwicklungsaufbau, sondern lediglich eine längeren journalistischen Einzelartikeln vergleichbare Struktur steckt. Überhaupt liegt Savianos Stärke sicher nicht in einer inspirierten poetischen Sprache, sondern in einer nüchternen Schilderung nackter Fakten, die in ihrer Hässlichkeit oft jede Vorstellungskraft übertreffen. Das erste Kapitel beschreibt den von der Camorra kontrollierten riesigen Hafen, der zum Umschlagplatz chinesischer Importware in ganz Europa geworden ist. Kapitel zwei ist der italienischen Haute Couture, deren weltbekannte Firmen ihren sündhaft teuren Edelfummel im Hinterland Neapels schneidern lässt, weil dort das Know-How dafür vorhanden ist. Wieder kassiert die organisierte Kriminalität in Form von Zwischenhändlern mit ab. Den einzelnen Betrieben und ihren Arbeitern bleibt nur ein Hungerlohn. Ein zweites Standbein ist die illegale Fertigung von falscher Markenkleidung, die oft den Originalen täuschend ähnlichsehen. Kapitel drei und das lange Kapitel vier schildern die internen militarisierten Strukturen der neapolitanischen Camorra und die blutigen Bandenkriege in Scampia, wo die Clans Di Laura und die abtrünnige Splittergruppe („scissionisti“) von Raffaele Amato um die Vorherrschaft im Norden Neapels kämpfen. Das den ersten Teil abschließende Kapitel fünf hat die Flintenweiber und die aktive Rolle der Frauen innerhalb der Camorra zum Thema. Der zweite Teil beginnt mit dem Handel mit illegalen Waffen jeder Art, den die Camorra seit dem Zusammenbruch des Ostblocks und den Jugoslawienkriegen der neunziger Jahre kontrolliert. Kapitel sieben spricht über die Baufirmen der Camorra in Caserta, die als Kartell die öffentlichen Bautätigkeiten in Neapel und inzwischen oft auch in ganz Italien kontrollieren. Kapitel acht spricht von dem Priester Don Giuseppe Diana, der in der Hochburg der Camorra Casal di Principe Anfang der neunziger Jahre den Widerstand gegen „o’ sistema“ organisiert und im März 1994 ermordet wird. Die letzten drei Kapitel des Buchs beschreiben weitere Aspekte des Schattenreichs der organisierten Kriminalität. „Hollywood“ hat den perversen Narzissmus der Bosse zum Thema, die gerne Kriminelle aus Hollywood-Filmen zum Vorbild ihres Lebensstils nehmen. Kapitel zehn beweist die enorme Gefährlichkeit der Camorra, die schon lange kein nationales Phänomen mehr ist, sondern ihre Tentakel überallhin in Europa ausgebreitet hat, besonders stark in Spanien („costa nostra“!) und England, dem das Kapitel „Aberdeen, Mondragone“ gewidmet ist. Das letzte, als Klimax gestaltete Kapitel spricht vom „terra dei fuochi“ (in Anlehnung an das Feuerland in Südamerika), das während der zahlreichen Müllkrisen Neapels traurige Berühmtheit erlangte, weil fast überall im Hinterland Neapels illegale Müllhalden betrieben wurden, in denen jahrzehntelang jede Art von giftigem Sondermüll deponiert wurde, der dann oft im Auftrag der Camorra angezündet wurde und ein Umweltdesaster verursachte.
P.S: Das Buch ist in einem relativ einfachen Italienisch geschrieben. Wer kann, sollte in jedem Fall zur Ausgabe in der Originalsprache greifen.