Herr Lehmann, Seven Regeners Debütroman aus dem Jahre 2001, erzählt in den ersten 7 Kapiteln einen einzigen Tag im Leben von Frank Lehmann Mitte September 1989 und, in der Folge, in den Kapiteln 8 bis 20 weitere Wochen und Episoden aus Lehmanns Leben bis zum Tag des Mauerfalls am 9. November. Frank Lehmann, genannt Herr Lehmann, ist ein dreißigjähriger Barkeeper mit allen Symptomen einer Lebenskrise. Ohne große Perspektiven, lebt er sein kleines Kreuzberger Leben in den Tag hinein, verpennt selig den Morgen nach der Nachtschicht in der Kneipe Einfall, wo er arbeitet, kommt kaum heraus aus seinem geliebten Kreuzberg und schafft es in seinem Autismus und Narzissmus auch nicht, eine tragfähige Beziehung zu seiner neuen Flamme Katrin aufzubauen. Lehmanns Alter Ego Karl Schmidt, ein gescheiterter Objekt-Künstler, hat eine Phase der Dekonstruktion und schlittert immer mehr in eine schwere Depression hinein. Am Ende des Buchs (Kapitel 19) bringt ihn Lehmann ins Urban-Krankenhaus, wo Schmidts Nervenzusammenbruch ruhig gestellt und behandelt wird.
Die Stärke von Regeners Erstlingsroman liegt in der genauen Beobachtung des Alltags der Kreuzberger Künstlerszene Ende der achtziger Jahre. Sehr lange, glaubwürdig konstruierte Dialoge aus den Sumpfgebieten der Kreuzberger Kneipen, Beziehungen zu Frauen, die so offen sind, dass nichts daraus wachsen und gedeihen kann, eine witzig erzählte Reise „ins Ausland“ am Kudamm (Kapitel 19), ein Besuch Ostberlins (Kapitel 15), schließlich der Fall der Berliner Mauer (Kapitel 20), für den die Kreuzberger Szene eine restlos fehlende Begeisterung an den verkaterten Tag legt, und manch anderes Lokalkolorit mehr der surrealen Mauerstadt, lassen sich angenehm und flüssig lesen. Sven Regener, der mit Element of Crime auch Musik macht, tut gut daran, sein Metier zu wechseln, denn das Schreiben hat er definitiv drauf. Was (mir zumindest) allerdings oft in den Texten Regeners fehlt ist ein gewisser Tiefgang und Reflektionen, die über die Videoaufzeichnungen, Audiorealitäten und überhaupt Befindlichkeiten von SO 36 hinausgehen. Lediglich bei der Krankheitsgeschichte von Karl Schmidt, der vermutlich auch irgendwo Sven Regener selbst ist, hat man das Gefühl, dass es endlich mal ein wenig ernsthafter, tragischer und menschlicher zu Werke geht. Oft bleibt alles allerdings in einem norddeutschen Humor und einer Ostfriesenleichtigkeit stecken, die an Rocko Schamoni und Comic-Star Werner erinnern. Nur mit einer solchen Bremer Legeresse konnte der Roman allerdings zum millionenfach aufgelegten Bestseller werden und zwei Folgeromane um Frank Lehmann sowie Verfilmungen im Schlepptau haben.
Für alle, die in den achtziger Jahren in Kreuzberg gelebt haben, Pflichtlektüre.