Die Umarmung der oldenburgischen Boa Constrictor

M_RDBrinkmnann

Die meisten kennen ja (wenn überhaupt) Rolf Dieter Brinkmann als Lyriker. Manche wissen auch noch, dass Brinkmann lange, unzumutbare und unleserliche „Tagebücher“ geschrieben hat, die nach seinem frühen Tod als „Materialsammlungen“ veröffentlicht wurden und aus denen vermutlich nie verwirklichte Prosaprojekte destilliert werden sollten („Rom, Blicke“ und „Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand“). Fast niemand weiß, dass Brinkmann 1962 mit der Erzählung „In der Grube“ als Prosaautor begonnen und 1965 einen kleinen Prosaband „Die Umarmung“ mit sechs Erzählungen veröffentlicht hat. Wie kaum bei einem anderen Autor scheiden sich bei Brinkmann die Geister und Lager. Entweder man mag ihn so sehr, dass man ihn immer wieder liest oder man hasst ihn sofort, stellt sein Buch nach eineinhalb gelesenen Seiten ins Regal zurück und verurteilt ihn zu lebenslänglicher Nichtbeachtung. In einem einzigen Zug kann aber wohl kaum einer die 400 Seiten Prosatexte durchlesen, die Rowohlt in diesem dicken Erzählband zur Verfügung gestellt. Dafür sind die Texte zu dicht geschrieben. Man muss die Prosatexte Brinkmanns unvermeidlich aufteilen und häppchenweise lesen. Ich hab mir diesmal, wie schon erwähnt, die sechs Stücke von „Die Umarmung“ vorgenommen. Eine lineare Erzählung mit Anfang und Ende sowie eine klassische Handlung, auf die der Titel der Erzählung vorbereitet, darf man sich bei Brinkmann sowieso nicht erwarten. Es handelt sich vielmehr um nicht enden wollende, unglaublich intensive und obsessive Bewusstseinsströme, in die der Leser mit hineingerissen wird. Wut und Verzweiflung über die potthässliche Welt gerinnen zu Satzungetümen und Hasstiraden. Etwas Vergleichbares hab ich zumindest in der deutschen Literatur noch nie gelesen. Brinkmann wird mit seiner Sprache allein zum Markenzeichen. Als einziger Schriftsteller mit einem ähnlich absoluten Erkennungswert seines Sprachstils fiele mir nur noch Franz Kafka ein. Die erste Erzählung „Der Arm“ erzählt von einem Schüler, der im Bett liegt und an die Krebskrankheit seiner Mutter denkt. Mitten in der Nacht öffnet am Ende der Erzählung jemand seine Zimmertür (um ihm mitzuteilen, dass seine Mutter gestorben ist?). Es folgt „Das Lesestück“, das eine Deutschstunde beschreibt. Ein Lehrer reagiert nachsichtig auf die Entdeckung eines Pornoheftes seiner Schüler. „Weißes Geschirr“ erzählt das letzte Rendezvous einer Jugendliebe. „Geringes Gefälle“ berichtet aus einer Cafeteria und ist eine Anklage gegen die Konsumgesellschaft. Die essenden und trinkenden Personen werden in ihrer bodenlosen Hässlichkeit und Dumpfheit bloßgestellt. „Die Umarmung“ ist eine weitere Bloßstellung der sich formierenden Spaß- und Genussgesellschaft. Diesmal attackiert Brinkmann nicht die Gaumenfreuden, sondern die Sexualität. In einer unglaublich direkten und pornographischen Sprache, die sicherlich 1965 sehr provozierend war, aber in ihrer photographischen Direktheit und Brutalität auch etwas Unschuldiges und Poetisches besitzt, schildert Brinkmann Sex als etwas zutiefst Desolates, Widerliches, Ekliges, Tierisches, Unmenschliches. Auch die Schwangerschaft der Frau und der in ihr entstehende Embryo ist Teil dieser Horrorgalerie des Lebens. „Der Riss“ spielt in einer hässlichen und bedrohlichen Entbindungsstation, wo ein Mann darauf wartet, dass seine Frau ihr Kind zur Welt bringt. Außer dem hier etwas ausführlicher besprochenen Erzählband „Die Umarmung“ bietet die rowohlt’sche Zusammenstellung von Brinckmanns „Erzählungen“ noch seine zwei ersten in Anthologien veröffentlichten Erzählungen „Die Grube“ und „Die Bootsfahrt“, den 1966 veröffentlichten Erzählband „Die Raupenbahn“ sowie bisher unveröffentlichte sechs Erzählungen aus den Jahren 1959 bis 1961 mit dem Titel „Was unter die Dornen fiel“. Heiner Müller hat Brinkmann einmal „vielleicht das einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“ genannt. Keiner weiß, ob das stimmt. Sicher ist jedenfalls, dass Brinkmanns literarischer Wert auch heute nach 40 Jahren völlig unterschätzt bleibt. Rolf Dieter Brinkmann: Erzählungen

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