Als ich in den achtziger Jahren am West-Berliner John-F.-Kennedy-Institut studierte, sprachen alle vom „postmodernen Roman“ und von Thomas Pynchon als dessen wichtigsten Vertreter. Die Lektüre seines Erstlingsromans „V“ (1963) und vor allem seines Hauptwerks „Gravity’s Rainbow“ (1973) wurde allen Studierenden wärmstens empfohlen. Das hörte sich erst einmal ganz vernünftig an, doch der Spaß hörte schnell auf, wenn man konkret anfing, Pynchons Bücher zu lesen. „V“ hat den Umfang von Manns „Zauberberg“, „Gravity’s Rainbow“ den von Joyces „Ulysses“. Plot und Stil sind dermaßen komplex, schwierig und verschachtelt, dass ich beide Romane nach ein paar hundert Seiten quälender Lektüre abgebrochen und frustriert ins Regal zurückgestellt habe. Das war zwar weiter halb so schlimm, denn ähnliches war mir auch schon bei anderen Autoren passiert, etwa bei dem schon erwähnten James Joyce, aber auch bei anderen Klassikern der modernen Literatur wie Thomas Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Alles für mich unleserliche Biester. Das Thema Thomas Pynchon war für mich damit erledigt. Ein übler Nachgeschmack bleibt bei solchen frustrierenden Leseerfahrungen trotzdem zurück. Als mir jetzt vor ein paar Wochen ein Freund erzählte, dass er Pynchons „Vineland“ lesen wolle und dieser Roman gar nicht so schwer zu lesen sei, habe ich noch einmal einen Versuch gewagt und mir Pynchons 1966 erschienenen Roman „Die Versteigerung von No. 49“ vorgeknöpft, der ebenfalls den Ruf hat, zu seinen zugänglichsten Werken zu gehören. Zumindest ist er mit 160 Seiten erfreulich kurz. Da ich ein gebranntes Kind war, hab ich nicht einfach angefangen zu lesen, sondern mir vorher einige Inhaltsangaben des Romans und seiner sechs Kapitel sowie Analysen der Romanfiguren aus dem Netz heruntergeladen. Die Lektüre konnte beginnen und lief erstaunlich und erfreulich glatt. Der Roman begann mir zu gefallen. Und nicht nur das: Nachdem ich ihn ein zweites Mal gelesen hatte, war ich schlichtweg begeistert! Die sicherlich mit autobiographischen Elementen angereicherte Geschichte um die Protagonistin Oedipa Maas, die als Testamentsvollstreckerin ihres ehemaligen Liebhabers Pierce Inverarity das mysteriöse alternative Kommunikationsnetz W.A.S.T.E und den anarchischen Geheimbund „Trystero“ entdeckt, beschreibt natürlich auch das Entstehen der amerikanischen Counterculture Mitte der sechziger Jahre, die ja in Kalifornien einen ihrer Hauptschwerpunkte hatte. Die Hinweise auf solche Zeitumstände sind zu auffällig. Die Musikgruppe „Paranoids“ entspricht allzu offensichtlich den Beatles und der musikalischen „British Invasion“ im Jahre 1964, die LSD-Experimente von Dr. Hilarius gab es wirklich im Kalifornien der sechziger Jahre. Doch Pynchon wäre nicht Pynchon, wenn er sich mit einem banalen Aufspringen auf den Zug des Zeitgeists begnügen würde. Das „Trystero“-System reicht nämlich, so erfährt man im Laufe des Romans, weit zurück in die europäische Geschichte und entstand schon Ende des 16. Jahrhunderts im gegen Spanien rebellierenden Holland, in dem ein alternatives Postsystem zu Thurn und Taxis heranwuchs. Nach der gescheiterten Revolution 1848 emigrierten die Geheimbündler dann ein Jahr später im Jahr des kalifornischen Goldrausches 1849 nach Amerika, was dem Roman wahrscheinlich seinen Namen gab. Pynchon bindet somit seine Geschichte des subversiven Anti-Apparats „Trystero“ in die Geschichte der europäischen Neuzeit ein und liest sie als Kampf der intelligenten rechtlosen Außenseiter gegen den kulturdominanten Mainstream, der seit eh und je an den Schalthebeln der Macht sitzt. Allerdings bliebt trotzdem bis zum Schluss unbeantwortet, ob dieser „Trystero“ tatsächlich existiert oder nicht vielleicht doch nur ein eine Wahnvorstellung von Oedipa Maas ist oder noch schlimmer, eine Verschwörung des toten Inverarity gegen seine ehemalige Geliebte. Absolut lesenswert.