Der Sturm
Steht ein Rosenstrauch in deinem Garten
und er ist noch gar nicht grün.
Und du kannst es kaum erwarten,
daß die erste Knospe komme, zart und dünn,
und daß sie verkünde neues Leben.
Wartest, wartest voller Angst und Beben,
bis ein Morgen kommt – und sie ist da.
Und sie ist so fein und schlank und hell,
ganz geschlossen noch und kaum gesehn
und du möchtest, daß sie aufbricht, ganz, ganz schnell,
da du weißt, wie rasch die Zarten untergehn.
Doch es enteilt ein Tag und es enteilt ein zweiter
und die Himmel werden blauer, werden weiter
und die Knospe bricht nicht auf.
Und du weißt: wenn jetzt ein Frost kommt, stirbt sie,
stirbt und hat das Leben nicht gelebt.
Möchtest gerne helfen und weißt doch nicht wie,
fürchtest sehr, daß nicht ein Wind sich hebt,
der sie dir vom Stamme bricht –
in der Nacht, du schläfst und siehst es nicht,
und sie ist bei Tag schon tot.
Kommt dann eine Nacht, und Stürme brausen um dein Haus,
um dein Haus, mit den verschloßnen Toren.
Und du bäumst dich auf und willst und willst hinaus
und dir klingt’s wie Wimmern in den Ohren.
Endlich bist du draußen – und du siehst den Rosenstrauch dir an –
Sieh – es ist die Knospe aufgebrochen.
Was die Sonne nicht vermocht‘ in langen Wochen,
hat ein einz’ger Sturm getan.
(März 1941)
Selma Meerbaum-Eisinger wurde am 15.8.1924 als Tochter des Ladenbesitzers Max Meerbaum in Czernowitz geboren. Schon sehr früh las sie Gedichte von Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Klabund, Paul Verlaine und Rabindranath Tagore, Dichter, deren Einfluss auf ihre eigene beklemmend reife Lyrik, zu der ihr in ihrem kurzen Leben die Zeit blieb, spürbar wird. Ab 1939 begann sie, eigene Gedichte zu schreiben und aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen zu übersetzen. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Juli 1941 wurde die Familie Eisinger gezwungen, im Ghetto der Stadt Czernowitz zu leben. 1942 wurde die Familie (wie Paul Celans Eltern und alle anderen Juden in Czernowitz) von den Rumänen in das rumänische Arbeitslager Michailowka in Transnistrien (Ukraine) deportiert. Dort starb Selma Meerbaum-Eisinger am 16.12.1942 an Flecktyphus.
Das schmale Werk der mit achtzehn Jahren ermordeten Autorin gehört neben den Gedichten Rose Ausländers und Paul Celans, mit dem sie einen gemeinsamen Urgroßvater hatte, zum großen literarischen Erbe der ausgelöschten deutsch-jüdischen Kultur der Bukowina.
