Herfried Münkler Welt in Aufruhr

Wenn ein Buch wie Herfried Münklers „Welt im Aufruhr“ ganz oben in den Bestsellerlisten kraxelt, sind die Ansprüche des geneigten Lesers natürlich besonders hoch. Und wenn dann das Versprechen des Autors, nichts weniger als die globale politische Weltsituation zu erklären, nicht eingehalten wird, ist der Katzenjammer umso größer, hat man doch einen 500-Seiten-langen Schmöker vor sich, durch den ich mich bis auf Seite 366 gequält und dann beherzt und resigniert vor dem Kapitel „Machiavellis Dilemma“ abgebrochen habe. Das Buch ist einfach zu lang und langatmig. Vieles wiederholt sich. Meiner Meinung nach hätte es ihm nur gutgetan, es mindestens auf die Hälfte zurechtzustutzen.

Natürlich könnte es sein, dass Münkler recht hat, wenn er sein Modell der Pentarchie entwickelt (Amerika, China, EU, Russland, Indien) und diese Theorien, historisch weit ausholend, mit so großen Kriegstheoretikern wie Thukydides, Machiavelli, Clausewitz, Carl Schmitt etc. zu begründen versucht. Vor allem in Europas Geschichte scheinen solche flexiblen Fünfer-Konstellation (im Gegensatz zu starren dualen Gegensätzen) häufig vorgekommen zu sein und sich auch in der gegenwärtigen Machtstruktur der EU zu wiederholen (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen).

Trotzdem überzeugt dies alles letztendlich nicht. Analogien in der geschichtlichen Entwicklung können ins Nirwana laufen. Wer weiß, ob nicht auch heute noch letztendlich eine dialektische Machtstruktur die Welt definiert (USA und Satelliten auf der einen Seite, Russland und Satelliten auf der anderen Seite). Ob in Europa wirklich die 5 genannten Länder den Ton angeben, bleibt fraglich.  Die wichtigen arabischen Staaten werden von Münkler überhaupt nicht erwähnt. Seine Argumentationen bleiben somit letztendlich sicher diskutierenswert, aber können keinen definitiven Erklärungsanspruch überzeugend geltend machen.

Henry Miller

Henry Miller zählt sicherlich zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts (nicht nur Nordamerikas). Wenn man sich der amerikanischen „Beat Generation“ in den 50ern und den „counter-culture movements“ der 60er und 70er Jahre im Westen der damaligen Welt nahe fühlt, wird er sogar zu einer Art Übervater, weil er viele der damaligen Themen in seinem Leben vorweggenommen hat: freie Sexualität, Suche nach Spiritualität, Absage an eine materialistische Konsumkultur, Leben und Kunst im Gleichschritt und damit eine enorme Authentizität und Originalität, der Nimbus eines jahrzehntelang zensierten Autors, der ihm zwangsläufig Kultstatus verschaffte. Es reicht zu erwähnen, dass der 1891 geborene Miller erst aber den 60ern einen größeren Bekanntheitsgrad jenseits des Kultbuchautors von „Tropic of Cancer“ und sonstiger Schmuddelromane erreichte und da war er ja schon über 70 Jahre alt. Seine wichtigsten Bücher hat er völlig mittellos in Paris zwischen den 2 Weltkriegen geschrieben und war abhängig von der Großzügigkeit von Anais Nin und anderen begüterten Mäzenen. Wenn man Nordamerikanistik studiert, hört man nur von der „Lost Generation“, von Ernest Hemingway und Gertrude Stein, nicht von Henry Miller.

Heute wird allerdings Henry Miller nicht nur von einer akademischen Kulturschickeria wegen seiner Inhalte und Sprache gedisst, sondern ist ganz allgemein fast völlig vergessen. Man macht es sich allerdings zu leicht, wenn man dieses Abtauchen in den literarischen Orkus überheblich mit der Oberflächlichkeit unserer chaotischen, durcheinandergewürfelten Zeiten abtut. Vielleicht ist es da schon ehrlicher zuzugeben, dass man sich, einmal, heute extrem schwer damit tut, lange Texte zu lesen. Arthur Hoyles 350-Seiten-dicke Biographie beginnt nach 50 Seiten zu langweilen und lässt einen nach 100 Seiten die Lektüre abbrechen (zumindest mir erging es so). Darüber hinaus glaube ich, dass man auch ein generelles Problem mit den sogenannten „Klassikern“ hat. Wirklich neu können sie beim Wiederentdecken nicht werden, man hat sie vor Jahrzehnten einmal intensiv gelesen und bringt heute einfach nicht mehr den richtigen Bums für den „Hau-Den-Lukas“ in die geballte Faust, um sich noch einmal gründlich mit ihnen zu beschäftigen. Nehmen wir drei ziemlich beliebige Beispiele von klassischen Schriftstellern, die ich irgendwann einmal mit viel Elan gelesen und gemocht habe: Heinrich Kleist, Hermann Melville, Wolfgang Borchert. Dass mir bitte keiner damit kommt, freiwillig den „Michael Kohlhaas“, „Billy Budd“ oder „Draußen vor der Tür“ noch einmal zu lesen.

Alles hat seine Zeit und die meisten Schriftsteller kommen einfach zur Unzeit.

Klar, dass nicht alle mit so einer radikalen These einverstanden sein werden.

Simon Baker: Rom (Aufstieg und Untergang einer Weltmacht)

Wenn man wie ich in Rom lebt, kann man mit der erdrückenden Masse von relevanter Historie, welche die Hauptstadt Italiens im Laufe ihrer Jahrtausende alten Geschichte aufgehäuft hat, auf zwei Arten umgehen: entweder man macht es wie Rolf Dieter Brinkmann und kümmert sich einen feuchten Dreck um Roms Geschichte, wenn man schon einmal nolens volens hier ist. Nachteil: der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt … der Ignorant! Die andere Möglichkeit besteht darin, gegen seine Bildungslücken tapfer anzukämpfen, zum Beispiel mit der Lektüre von Simon Bakers Buch „Rom (Aufstieg und Untergang einer Weltmacht)“. Das Buch liest sich in Teilen sogar flüssiger als befürchtet, doch hängen bleiben tut wenig, man war und bleibt ein tumber teutonischer Sisyphus und Ignorant in der wuseligen mediterranen Metropole und fühlt sich außerdem noch an den Lateinleistungskurs in den 70er Jahren am Reuchlin-Gymnasium erinnert. Römerkastell in Pfünz, you understand? Daten, Siege, Heere, veni, vidi, vici. Was möglicherweise am interessantesten bei der doch letztendlich mühsamen und langweiligen Lektüre des Buchs hängen bleibt ist der seltsame Kaiser Konstantin, bei dem man nicht versteht, warum er vom Christenverfolger zum Christenunterstützer wird und damit die geschichtliche Entwicklung des Abendlandes in entscheidender Weise prägt.

Das Rom der Ingeborg Bachmann

Dem großen Kanon der Bachmann-Literatur Neues hinzuzufügen, ist wahrscheinlich vergebliche Liebesmüh. Zuviel ist über die größte deutschsprachige Dichterin des 20. Jahrhunderts geschrieben worden. Man findet auch im Netz hervorragende Interpretationen zum Beispiel zu „Böhmen liegt am Meer“, wo man wieder einmal sieht, dass bei dieser alten Garde von Wortschmieden jede einzelne Silbe wichtig war und sitzt. Um Frustrationen und Langeweile zu vermeiden, muss also ein neuer Ansatz her. Den versucht zum Beispiel das Büchlein von Fußl/Larcati „Das Rom der Ingeborg Bachmann“, in dem die verschiedenen römischen Wohnungen der Klagenfurter Poetin zusammen mit biographischen Notizen beschrieben werden. Authentisch und direkt. Einen Ansatz, den auch das österreichische Kulturinstitut im Web versucht hat und den man leicht mit einer Google-Suche findet. Bachmann liebte ja Rom (auch wenn sie ein nostalgisches Wien und Österreich nie aus ihrem Kopf bekam), sprach perfekt Italienisch, kannte die römische und italienische Geschichte bestens und hatte intensiven Kontakt zum römischen Kulturleben und italienischen Intellektuellen.

Ganz im Gegensatz zu Rolf-Dieter Brinkmann, der „zufällig“ ein Jahr in der „Villa Massimo“ als Stipendiat verbrachte und dort „Rom Blicke“ schrieb, ein wichtiges Buch, das aber wohl niemand von vorne bis hinten gelesen hat. Brinkmann liebte Nordeuropa, sprach kein Wort Italienisch und war auch an der römischen Geschichte nicht interessiert, die für ihn nur eine eklige Geschichte der römischen Kirche und überhaupt der perversen Machtambitionen der westlichen Welt war. Ein Buch gegen „caput mundi“ Rom und die westliche Welt, ein Buch gegen Goethe (wie er das römische Goethe-Institut als Träger der offiziellen Kultur hasste!), „Rom Blicke“ eine neue Anti-„Italienische Reise“, gegen das Bildungsbürgertum und gegen den wichtigsten Dichter der deutschen Literatur. Mit einem völlig neuen Schreibansatz, der Techniken des Avantgarde-Kinos der 60er-Jahre benutzt und geschichts- und emotionslos, wie eine Filmkamera lediglich die Realität beschreiben will. Was gerade in einer Stadt wie Rom schnell zur sinnlosen Pose wird und nicht klappen kann.

Um Rom zu verstehen, muss man auch seine Geschichte kennen.

Wolfgang ratlos

Seit meinem letzten Beitrag hier, sind ja viele Monate ins Land gegangen. Woran liegt’s? An den schlechten Zeiten allemal, Ukrainekrieg, Wirtschaftskrise, Inflation, der Neo-Fascho Gennaro Sangiuliano italienischer Kulturminister, pipapo. Gründe, sich wohlzufühlen, gibt es wenige. Und Ideen und Kreativität noch weniger, befürchte ich. Die guten Bücher sind eh schon alle geschrieben worden. Neue Bücher werden zwar jedes Jahr mehr geschrieben, aber lesen tut die eh keiner mehr. Bücher scheinen langsam so altmodisch wie Schelllackplatten. Und dass ein fundamentaler Umbruch unserer westlichen Kulturen im Gange ist, kann auch kaum mehr bezweifelt werden. Das Buch als Hauptkulturträger wird immer unwichtiger und durch andere nicht-schriftliche Inhalte ersetzt werden. Das wusste schon Marshall McLuhan und das Papperl der Originalität wird mir bei diesen Sätzen kaum jemand auf die hehre Dichter-und-Denker-Stirn kleben.

Etliche Bücher habe ich begonnen zu lesen und dann die Lektüre abgebrochen. Die neue Dylan-Biografie von Dennis McDougal ist für mich geplagten deutschen Muttersprachler mühsam zu lesen und eben erwähnter Mühe auch kaum wert, weil die Neuigkeiten fehlen. Marco Travaglios „Scemi di Guerra“ ist leider letztendlich ein lupenreines kommerzielles Produkt, um mit den Kriegsgegnern Kasse zu machen. Die ersten 90 Seiten „Einleitung“ sind interessant (wer des Italienischen mächtig ist), aber dann folgt ein 360-Seiten-langes langweiliges Kriegstagebuch, das Travaglio wahrscheinlich noch nicht einmal selbst geschrieben hat, sondern von seinem Staff kompilieren lassen hat. Das Tagebuch „endet“ am 2. Februar, der Ukraine-Krieg allerdings nicht. Wahrscheinlich kommt dann im Frühjahr 2024 ein ebenfalls kommerziell erfolgreicher Folgeband mit weiteren 500 Seiten Kriegstagebuch, die keine Sau liest, die man sich aber schön für den Besucher sichtbar ins Regal stellen kann. In der Not schmeckt nicht nur die Wurst ohne Brot, sondern greift man gern auf Klassiker zurück, in meinem Fall Ingeborg Bachmanns „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar (Essays, Reden, Kleinere Schriften)“. Das Buch hatte ich vor vielen Jahren schon einmal gelesen, aber diesmal habe ich es nicht geschafft, mich wieder mit der Bachmannschen Gemütslage kurzzuschließen. Zu langweilig, zu schwierig, zu wenig brisant. Ich versuche es jetzt mal mit dem kleinen Büchlein „Das Rom der Ingeborg Bachmann“. Sehr sympathisch ist schon einmal vor der Lektüre, dass das Buch nur 50 Seiten hat. In unseren heutigen Zeiten erscheinen lange Bücher eigentlich nur noch obszön.

Und das Schreiben? Das sieht es genauso miserabel aus, wahrscheinlich sogar noch miserabler. Erste (Schnaps)-Idee: meine Biografie über Bob Dylan aus dem Jahre 2011 zu aktualisieren. Das mag auch etwas für sich haben, immerhin sind inzwischen auch schon wieder 12 Jahre vergangen und sich mit Bob Dylan zu beschäftigen, ist eigentlich immer sinnvoll, aber Bücher über ihn gibt es inzwischen wie Sand am Meer, und die Motivation, mein Buch (das sicherlich viele Jugendsünden hat) zu überarbeiten, mag so ein Werk auch qualitativ verbessern und aktualisieren … aber nein: das ist „damals“ so geschrieben worden, und das ist auch auch „gut“ so, wie es damals geschrieben worden ist. Zweite (Schnaps)-Idee: ein Buch über kuriose und skurrile Alltagsbegebenheiten. „Tage im Leben“ hätte es heißen können und über so „wichtige“ Nachrichten geschrieben wie zum Beispiel, dass Männer ein aufgespießtes Tier durch die Innenstadt Neunkirchens tragen. Ja? Nein, lieber nicht. Vor ein paar Wochen ist mir eine neue Idee gekommen, die hoffentlich diesmal keine Schnapsidee ist. Ich hab unten im Keller noch einen alten Jahresbericht meines Abiturjahrgangs 1979 am Reuchlin.Gymnasium in Ingolstadt stehen. Da könnte man so 20, 25 Geschichten erzählen (wahr oder wild erfunden), wie man sich das Leben dieser Personen vorstellt. „Klassenfeinde“ könnte ich das Buch nennen. Mal sehen.

William Burroughs

William Burroughs ist (für mich persönlich zumindest) weniger interessant als Schriftsteller – die Lektüre seiner Bücher ist reichlich frustrierend, ob auf Amerikanisch oder Deutsch, immer wenn ich versucht habe, etwas von ihm zu lesen, ob „The Naked Lunch“ oder „The Wild Boys“ habe ich jedes Mal genervt die Lektüre abgebrochen – denn als Galionsfigur des lebenslangen, kompromisslosen literarischen Untergrunds, des kategorischen Imperativs des „Neins“ der postmodernen Kunst. Wichtiger als seine Bücher ist somit wahrscheinlich sein wildes Leben und seine Attitüde gegenüber der Kunst. „Kunst“ kommt ja von „Können“, und ob Burroughs schreiben konnte, weiß ich nicht. Was er sicher konnte, ist schockieren. Was er bühnenreif hinbekam, war, im Eisenhower-Amerika der 50er- Jahre Angst und Schrecken zu verbreiten. Er wurde wegen „mental instability“ nicht zum Wehrdienst im 2. Weltkrieg eingezogen (sprich: er war „verrückt“), er war schwul, er war ein Verbrecher (Lucien Carr erstach David Kammerer und dann natürlich die drogenumnebelte, psychotische Ermordung seiner Frau Joan Vollmer in Mexiko im Jahre 1952, von der er sich mit fetten Bestechungsbezahlungen freikaufen musste), er lebte jahrzehntelang parasitär vom monatlichen Scheck seiner reichen Eltern, er änderte seinen Wohnsitz häufiger als seine Socken (um Brecht zu zitieren) und lebte in Wien, New York, Mexiko, Südamerika, Tanger, Paris London undsoweiter, er war heroinsüchtig und abhängig auch von allen anderen möglichen Drogen. Verbrecher, schwul, arbeitsscheu, drogensüchtig, nihilistisch bis zur Selbstzerstörung: nicht gerade der ideale Schwiegersohn. Auch literarisch brach er alle Regeln: seine experimentelle Schreibweise hatte keine klassische Handlung und Progression, Wirklichkeit und Einbildung, Journalismus und Erfundenes gingen ineinander über. William Burroughs war bewusst und extrem radikal, eine Anti-Figur zum „American Way of Life“, die ja seit vielen Jahrzehnten auch unseren Lebensstil in Europa dominiert.

Am wichtigsten und ausdrucksstärksten sind wahrscheinlich die Werke aus seiner ersten und zweiten Schaffensperiode.

Anfang der 50-er: „Junkie“, „Queer“, „The Yage Letters“ (noch eher traditionell erzählt)

Mitte der 50er bis Mitte der 60er: seine bekanntesten Bücher, die hauptsächlich in Tanger und Paris entstanden und aus einem einzigen langen Manuskript („The Word Hoard“) destilliert worden sind: „The Naked Lunch“ und dann die manchmal als „The Cut-Up-Trilogy“ und von ihm selbst „A Mythology for  the Space Age“ genannten Romane „The Soft Machine“, „Nova Express“ und „The Ticket that Exploded“.

The Dharma Bums

„The Dharma Bums“, neben „On The Road” Jack Kerouacs bekanntestes und beliebtestes Buch, wurde zwar erst nach „On The Road“ im Jahre 1958 veröffentlicht, berichtet aber über Ereignisse aus Kerouacs wilden „Lehr- und Wanderjahren“ Mitte der 50er, bevor der Autor dann am Ende des Jahrzehnts schlagartig berühmt wurde, womit Kerouac nie zurechtgekommen ist. Manche Experten der „Beat Generation“ haben den drei wichtigsten Autoren deshalb Jahrzehnte zugeteilt: Jack Kerouac die 50er, Allan Ginsberg die 60er und William Burroughs die 70er. Was bei der Lektüre von „The Dharma Bums“ erst einmal ins Auge fällt, ist die unglaubliche Direktheit, Authentizität und Spontaneität der Erzählweise. Sowas kann man nicht glaubwürdig erfinden. Sowas muss man schon erlebt haben. Es gibt keinen mir bekannten anderen Autor, der so unvermittelt, echt und autobiographisch erzählen kann. Dagegen kann auch keine noch so gescheite Literaturtheorie anstinken, die mir etwas von geschickt konstruierter Pseudo- oder Fake-Narration erzählen will. Im Zweifelsfall glaube ich Kerouac mehr als jedem ehrenvoll ergrauten Literaturprofessor. In „The Dharma Bums“ ist/wirkt alles wie direkt aus dem wirklichen Leben erzählt, das sind keine erfundenen, sondern am eigenen Leib erlebten Erfahrungen, hier gehen persönlich gelebte Fakten und für den Roman erfundene Fiktionen nahtlos ineinander über. Man liest „real life stories“, die kein anderer als Jack Kerouac so überzeugend zu schreiben vermag. Möglicherweise ist Kerouacs Sichtweise und Schreibstil zutiefst „neuromantisch“. Gefühle, Gedanken, Beobachtungen und Beschreibungen werden nicht reflektiert und gefiltert, sondern sind unmittelbar und naiv. Nur in Goethes „Werther“ erinnere ich mich ähnlich ekstatische und weit ausschweifende Naturbeschreibungen gelesen zu haben. Das ist zwar „Sturm und Drang“, aber der Bogen ist trotzdem schnell von Goethes „Präromantik“ zu Kerouac gespannt. Und dann: wie viele ellenlange Beschreibungen von Essen liest man in „The Dharma Bums“? Und was ist schon authentischer und ehrlicher als Essen! In der Stadt leben die „Dharmagammler“ bei Freunden und schnorren sich durch die Existenz. Häufige Partys und wilde Lyriklesungen mit viel Sex, Alkohol und abstrusen Gedanken verscheuchen die Langeweile und den Mief des Eisenhower-Amerika. Auch die Konzeption von „The Dharma Bums“ als Schlüsselroman trägt zu seiner Authentizität bei. Eigentlich alle Romanfiguren beruhen auf wirklichen Personen: Ray Smith ist Jack Kerouac, Japhy Ryder ist Gary Snyder, Alvan Goldbook ist Allan Ginsberg, Rheinhold Cacoethes ist Kenneth Rexroth etc.

Inhaltlich ist der Roman auch nach über 60 Jahren pure Rebellion, vielleicht sogar noch mehr als damals. Die „Dharmagammler“ arbeiten nicht, haben kein Interesse an neuen Fernsehgeräten und Automobilen, Familie und schnuckligem Reihenhaus am Stadtrand, sind ohne festen Wohnsitz, trampen und springen illegal auf Güterzüge auf, leben schlecht oder nicht integriert am Rande einer städtischen Industriekultur, bewegen sich lieber in der unberührten Natur (die es damals noch mehr gab als heute), sind auf der Suche nach wahrer Spiritualität und wenden sich deshalb vom traditionellen christlichen Glauben ab und fernöstlichen Religionen zu. Alle diese Entscheidungen wären heute noch genauso (und vielleicht sogar noch mehr) revolutionär wie damals im opulenten Eisenhower-Amerika. In „The Dharma Bums“ schafft Literatur wirklich eine Gegenwelt zur bestehenden Gesellschaft und kann den Leser desto mehr überzeugen, weil man weiß, dass die erzählten Geschichten stimmen und nicht nur auf der Schreibmaschinentastatur erfunden worden sind.

The Cambrigde Companion to THE BEATS (Steven Belletto)

Als ich 1985 das Hauptseminar am John-F.-Kennedy-Institut über die „Beat Generation“ besuchte, war das damals noch eine kleine akademische Sensation und Provokation, wurden doch Kerouac, Ginsberg, Burroughs und Company vom damaligen Universitätsbetrieb noch vollständig ignoriert und gesnobbt. Das war doch nur ein wilder Haufen drogenabhängiger, krimineller und schwuler Dilettanten, die von Kultur und Literatur keine Ahnung hatten. Für mich war das Seminar von Michael Hoenisch jedenfalls eines meiner Handvoll kulturellen Schlüsselerlebnisse: ich las das erste Mal „On the Road“, „The Subterreneans“, „Howl“, „Kaddish“ und „Naked Lunch“und nichts mehr war wie zuvor. Die „Beats“ schrieben spontan und autobiographisch, waren auf der Suche nach Abenteuer, Freihiet und Spiritualität, hatten klare Identifikationsmechanismen („queer“/“square“). Das alles sprach mir aus dem Herzen.

Inzwischen sind natürlich fast 40 Jahre vergangen. Die Welt und auch ich sind etwas anderes geworden. Die „Beat Generation“ ist längst Teil des regulären Literatur- und Kulturbetriebs geworden. Präziser formuliert: es gibt zwar immer noch Teile der akademischen Schickeria, welche die „Beats“ weiterhin als „unseriös“ und „gefährlich“ einstuft (speziell in Schulbuchanthologien tauchen sie als „nicht jugendfrei“ nur selten auf), aber auch unter den schwarzen Talaren und Roben ist inzwischen eine Generation herangewachsen, die sich überzeugt mit den „Beats“ beschäftigen und sie möglicherweise sogar für die wichtigste literarische Bewegung des 20. Jahrhunderts halten.

„The Cambridge Companion to THE BEATS” ist Ausdruck dieses geänderten akademischen Bewusstseins und präsentiert in 18, von jeweils verschiedenen, renommierten Autoren verfassten Artikeln die gesamte Bandbreite relevanter Autoren und Themen. Das ist sicherlich ein gewaltiger Schritt nach vorne, ändert aber nichts daran, dass mit dem klassischen akademisch-philologischen Werkzeugkasten kaum Neues und Interessantes über diese Schriftsteller herauszufinden ist. Man liest, dass die „Beats“ nicht nur das weiße Triumvirat Kerouac-Ginsberg-Burroughs gewesen sind, man erfährt, dass es Dutzende andere wichtige Beat-Schriftsteller gegeben hat, Schwarze, viele Frauenschriftstellerinnen, man hat inzwischen auch die Rezeption außerhalb Nordamerikas untersucht (in Deutschland vor allem Brinkmann und Fauser), alles schön und gut, trotzdem schaffen es viele der Artikel nicht, wirklich in die Tiefe zu gehen und Spannendes zu sagen. Gerade bei den Kernaufsätzen über die Romane von Kerouac und Burroughs oder über die Lyrik von Ginsberg kann man ein wenig standesgemäßes Gähnen kaum unterdrücken. Leicht machen es die „Beats“ dem Literaturwissenschaftler sicher nicht. Die literarische Qualität der „Beats“-Texte schwankt stark, vor allem bei William Burroughs. Möglicherweise stehen bei ihm seine geschriebenen Texte nicht immer wirklich im Vordergrund, sondern immer wieder seine radikale Attitüde. Burroughs ist fast so etwas wie eine Fleisch-und-Blut gewordenen Ikone des extremen Untergrunds, ein Anti-Künstler aus einem anderen Universum (schwul, zynisch, heroinsüchtig, arrogant, so krank, dass man sich wundert, wie er es geschafft hat, überhaupt zu überleben, ein Schmarotzer aus Amerika, der jahrzehntelang jeden Monat einen Scheck von seinen reichen Eltern bekommt, der in der Weltgeschichte herumreist (Mexiko, Marokko, Paris, London) und hinter Heroin und Strichjungen her ist, ein Waffennarr und Krimineller, der beim Wilhelm-Tell-Spiel im Drogenrausch seine Frau erschießt und sich durch eine Kautionszahlung von einem jahrzehntelangen Gefängnisaufenthalt in Mexiko freikauft, ein Schriftsteller, der im Drogenrausch seine Albträume und Phantasien niederschreibt, die nichts, aber rein gar nichts von einem herkömmlichen „Roman“ haben).

Self-Publishing

„Self-Publishing“ („Selbst-Verlegen“) klingt geil, denkt man doch an den mit Schwielen an den Händen und Schweiß unter seinen Achseln werkelnden Autor, der sich in der stillen Literaturwerkstatt alles mühsam und gequält von der Seele schreibt. Authentisch, ehrlich, einsam, ein echter Künstler, besser geht’s doch gar nicht. Doch ein Manuskript ist noch lange kein fertiges Buch. Für das Buchcover braucht es Kenntnisse in Grafik und Design, und die hat unser braver Autor im Regelfall nicht. Es wird also im besten Fall reichlich dilettantisch werden. Noch schlechter sieht es beim Lektorat und Korrektorat aus, also bei den unvermeidlichen Rechtsschreibfehlern, Wortwiederholungen, Stilmängeln, Ungereimtheiten, Inkongruenzen etc., die im Text entmint werden müssten. Hier bräuchte es mindestens 4 Augen, aber unser braver Autor hat nur 2, und seine starke Sehbrille verdoppelt die Augenzahl auch nicht. Manches Unkraut wird somit ungerupft bleiben.

Wenn’s also bei der Qualität hapert, nicht gleich losquengeln, sondern daran denken, dass Sie kein Buch von „Suhrkamp“ oder „Rowohlt“ in den Händen halten.