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Ein Kapitel aus meinem Buch „Italien!“
Plumpsklo
Der Griff
Wir hatten im Frühjahr 2006 eine größere Wohnung in San Giorgio a Cremano unweit von Neapel erworben, deren Kauf von Anfang an unter keinem guten Stern stand. Provisorisch in Meta di Sorrento eingemietet, nachdem mir dort eine feste Anstellung als Deutschlehrer angeboten worden war, musste ich schnell feststel- len, dass ein Immobilienkauf in Sorrento oder an der Amalfiküste wegen der völlig überhöhten Preise für uns unmöglich war. Ein fataler Immobilienmakler wies mich darauf hin, dass San Giorgio a Cremano fast ein Vorort von Neapel sei und gute Zugverbindungen nach überall hin habe. Technocasa in San Giorgio a Cremano hatte eine Wohnung, die mir gefiel (nicht zu klein und mit viel Grün drum herum). Der Preis war nicht niedrig, blieb aber im Rahmen unserer finanziellen Möglichkeiten. Der Verkauf der alten Woh- nung in Verona war blendend gelaufen, da sie sowohl durch die seit Jahren sich aufplusternde Immobilienblase als auch durch die Wäh- rungsumstellung von Lira zu Euro erheblich an Wert gewonnen hatte. Leider konnte ich damals nicht wissen, dass schon ein Jahr später diese Immobilienblase platzen und der Preis der Immobilien nach jahrzehntelangen Blähungen in den Keller purzeln würden. Schon im Februar 2006, nachdem der Vorverkaufsvertrag (compro- messo) unterschrieben war, machte ich mich ans Renovieren. Ich kontaktierte über eine Kleinanzeige eine Baufirma in San Giorgio a Cremano, die mir für zirka 50.000 Euro die große Wohnung samt Keller, Terrasse und Garage komplett renovierte. Dazu nahm ich ei- nen acht Jahre lang laufenden (relativ bescheidenen) Kredit bei der Bank auf. Leider musste ich schon im Laufe der Arbeiten feststel- len, dass nicht alles so ablief, wie ich es gewollt hätte. Der Ingenieur der Baufirma klärte mich mit halben Sätzen und zu spät darüber auf, dass es unmöglich sei, in San Giorgio a Cremano Baugenehmi- gungen für die gewünschten Arbeiten zu bekommen, dass offizielle Rechnungen für seine Renovierungsarbeiten deswegen keinen Wert hätten und dass ich ohne Genehmigungen und Rechnungen auch die großzügigen Steuervergünstigungen nicht in Anspruch neh- men könne, die der italienische Staat (bis auf den heutigen Tag) für Instandhaltungsarbeiten und Modernisierungen gewährt. Ich trat also vielleicht nicht wirklich mit voller Sachkenntnis, aber blau- äugig und dumm in die Scheiße des Schwarzbauens (abusivismo). San Giorgio a Cremano ist „Zona Rossa“, wo seit Jahrzehnten jede Bautätigkeit streng verboten ist, weil in der Vergangenheit sehr viel illegal gebaut wurde. Man musste nur das nächste Bausanierungs- gesetz (condono) im Jahre 1983 und 1994 abwarten. Die Stadt, die zum Evakuierungsgebiet des Vesuvs gehört, wuchs auf diese Weise immer stärker aus den Fugen und hat heute eine Besiedlungsdich- te, deren Zahlen keine europäische Dimension haben, sondern an Hongkong oder Japan erinnern. Die Renovierungsarbeiten waren im Sommer 2006 mit reichlich Verspätung abgeschlossen worden. Das Sahnehäubchen auf den Bautätigkeiten war der Abriss eines Hühnerstalls auf der Terrasse, dessen Dach mit Platten aus Igittigitt gedeckt worden war. Solche Dachbedeckungen aus Igittigitt sieht man hier in Neapel und Umland noch häufig, auf Dächern von Produktions- und Lagerhallen und auf fast jedem wilden Müllhau- fen. Für 700 Euro Schmiergeld an die Arbeiter vermied ich die of- fizielle Entsorgung des giftigen mausgrauen Igittigitt, die sonst auf- wendig über das örtliche Gesundheitsamt (ASL) organisiert werden hätte müssen und mich mehrere tausend Euro gekostet hätte. In den Monaten danach verschwanden dann wie durch Zauberhand eine Reihe von Dachdecken aus Igittigitt in den Nachbargrundstü- cken und wurden durch unschuldiges Wellblech ersetzt. Da ging wohl mehr als einem braven Mitbürger der Arsch auf Grundeis und er brachte schnell seine giftigen Schäfchen klammheimlich ins Trockene, bevor der unberechenbare neue deutsche Nachbar, dem man nicht über den Weg trauen konnte, wo möglich mit einer An- zeige reagierte. Die wichtigsten Arbeiten bei der Renovierung ab Frühjahr 2006 betrafen den großen Keller unserer Wohnung, der von einer muf- figen Autowerkstatt und Kartoffelkombüse in ein schönes Sou-terrain mit Küche und Bad umgestaltet wurde. Weitere Arbeiten betrafen die Dachterrasse und vor allem die „sieben Quadratme- ter Gartenfläche“ (so stand es im ersten Kaufvertrag), auf der ein potthässlicher baufälliger „Schuppen“ ohne Dach und ersichtlichen Verwendungszweck stand, dem ich ein neues Dach und vorne ein Garagentor gönnte und auch neu verputzen und streichen ließ. Jetzt fiel den Nachbarkindern, die laut lärmend um den „Schup- pen“ herum Versteck oder Fußball spielten, wenigstens kein loser Ziegelstein auf den Kopf. Da die Garage unten wegen ihrer steilen Zufahrt für ein größeres Auto nur mühsam genutzt werden konnte, verwendete ich danach diesen „Schuppen“ als tagtäglich genutzte Garage, ohne in meiner Naivität zu ahnen, dass ich jedes Mal die Büchse der Pandora öffnete, wenn ich das Garagentor aufmachte. Der „Schuppen“ war nämlich vom Vorbesitzer schwarz benutzt worden und zudem noch falsch im Grundbuch eingetragen wor- den. Der verstorbene Ex-Besitzer hatte dann 1994 ein Sanierungs- gesuch beantragt, auf das die Stadt allerdings bisher (nach immer- hin 12 Jahren!) nicht reagiert hatte. Jedenfalls hatte ich kein Recht, einen solchen ungenehmigten Schwarzbau nach eigenem Gutdün-ken baulich zu verändern. Das Verhältnis zu den lieben Nachbarn verschlechterte sich zwi- schenzeitlich. Ein neuer Mieter tauchte auf, der regelmäßig im In- nenhof zwei (oder mehr) seiner Autos parkte und damit zusammen mit den anderen Autos der Nachbarn die gesamte Hoffläche voll- stellte. Die 50 Prozent, die wir laut Kaufvertrag an dem gemeinsam benutzten Innenhof besaßen, standen somit nur auf dem Papier. Das schuf böses Blut auf beiden Seiten. Auf unserer Seite, weil wir uns in unseren Eigentumsrechten beschnitten sahen, auf der Ge- genseite, weil unsere Nachbarn der Meinung waren, dass wir unsere zwei Autos gefälligst in den zwei Garagen (im Privatbesitz) parken und ihnen den gesamten Hof (im Gemeinschaftsbesitz) überlassen sollten. Im Februar 2007 kam nach wochenlangem Drängeln un- serer Nachbarn die Polizei bei uns vorbei und inspizierte die Keller- wohnung und die Garage im Hof. Es folgten nach einigen Wochen zwei Schreiben des Bauamts der Stadt. In einem Schreiben (die renovierte Kellerwohnung betreffend) wurden wir dazu aufgefordert, die im Keller umgestalteten Räumlichkeiten zu dokumentieren und einen detaillierten Antrag einzureichen, um eine nachträg- liche Genehmigung der Baumaßnahmen zu bekommen. Vorher mussten wir aber einen teuren Widerspruch beim „Tar Campania“ (Tribunale Amministrativo Regionale) einlegen, um Zeitaufschub zu bekommen und nicht innerhalb von sechzig Tagen den Origi- nalzustand wiederherstellen zu müssen. Das zweite Schreiben des Bauamts war happiger. Es forderte uns innerhalb der kurzen Frist von sechzig Tagen auf, die Garage im Hof abzureißen, da sie ille- gal ohne Genehmigung von uns gebaut worden sei. Aber ich hatte die doch gar nicht gebaut, sondern nur in Schuss gebracht! Die Kacke war am Dampfen. Wir hatten das erste Mal in unserem Le- ben mit Polizei und Rechtsanwälten zu tun. Und es sollte ein jahr- zehntelang dauernder Kreuzweg werden. Was die Kellerwohnung betraf, schien die Sache nicht weiter problematisch zu sein. Man stellte einfach einen Antrag auf die Ausstellung einer nachträglich gewährten Baugenehmigung. Von wegen! Unsere lieben Nachbarn begnügten sich nicht damit, uns wegen fehlender Baulizenzen die Polizei auf den Hals zu hetzen. Nein, sie wollten uns noch tiefer reinreiten. Wir sollten unsere gerade renovierte Kellerwohnung vermieten (einmal klingelte eine Nachbarin und sagte, dass sie je- manden kenne, der Interesse am Anmieten dieser Kellerwohnung habe). Wenn wir in diesen Schneewittchenapfel gebissen hätten, wäre aus juristischer Sichtweise die Renovierung kein Eigenbedarf gewesen, sondern aus Eigennutz gemacht worden. Auch der Ver- wendungszweck der Räumlichkeiten hätte sich von „Kellerraum“ in „Wohnraum“ geändert, was unsere Position weiter verschlim- mert hätte. Unsere Nachbarn hätten sich ins Fäustchen gelacht und eine weitere Anzeige beim Bauamt erstattet. Und damit nicht ge- nug! Unser erster Rechtsanwalt arbeitete mit einem Vermessungs- techniker (geometra) zusammen, der enge Verbindungen zum Bauamt von San Giorgio a Cremano hatte. Auf einmal standen über 5000 Euro Honorarforderungen für ihn im Raum, die wir schnell bezahlten, weil unausgesprochen mitklang, dass mit dieser Summe als Schmiergeld bei den nötigen Herrschaften alles besser und schneller laufen würde. In Wirklichkeit erfuhren wir im Jahr 2008, dass der Techniker mit dem Geld durchgebrannt war und noch nicht einmal den Antrag auf nachträgliche Baugenehmigung eingereicht hatte, für den wir jetzt ein zweites Mal einen anderen Techniker beauftragen und bezahlen mussten. Im Oktober 2015 gehörte der schlitzohrige mit dem Geld durchgebrannte Techniker dann zur Gruppe von Personen, gegen die ein Strafbefehlsverfah- ren wegen Korruption im Bauamt eingeleitet wurde. Da hatten wir offensichtlich wieder einmal ins Klo gegriffen. Das Bauamt hat auf unseren ersten und zweiten Antrag im Übrigen jahrelang nicht re- agiert. Erst vor ein paar Wochen stellten wir einen dritten Antrag, der dann in kurzer Zeit genehmigt wurde, nachdem Ende 2014 neue Baugesetze in Kraft getreten waren („Sblocca Italia“). Fast das gesamte alte Personal des Bauamts von San Giorgio a Cremano war im Herbst 2015 wegen Bestechung angeklagt worden. Etliche Funktionäre wurden unter Hausarrest gestellt. Doch damit nicht genug. Wir bekamen einen zweiten Bescheid (ordinanza) der Stadt San Giorgio a Cremano, der die renovierte Garage im Garten betraf. Uns wurde vorgeworfen, dass wir die Garage illegal gebaut hätten. Das bedeutete die Notwendigkeit, gegen die Strafanzeige und die Aufforderung zum sofortigen Abriss Einspruch zu erheben. Zwei Einsprüche, Zivilrecht und Strafrecht. Wir waren ab Februar 2007 fast jede Woche beim Rechtsanwalt, um ihm Informationen bereit- zustellen, mit denen die beiden Einsprüche plausibler begründet werden konnten. Doch leider sind Termine beim Rechtsanwalt kei- ne Schulstunden oder Seminarreferate, wo es darauf ankommt, sich möglichst gut und gründlich vorzubereiten. Wegen der häufigen Treffen schossen die Rechtsanwaltshonorare ins Kraut. Allein im Jahre 2007 waren es 15000 Euro (einschließlich des „Honorars“ für den tatenlosen korrupten Techniker). Das war viel Geld und tat weh. Ich nahm einen 10000 Euro-Kredit bei der Bank auf. Meine unverheiratete Tante aus Heilsbronn starb und hinterließ meiner Mutter einen kleinen Batzen Geld, wovon ich etwas bekam und für die Rechtsanwaltskosten verwenden konnte. Ich war längst unter die Räuber geraten, denn „Rechtsanwälte“ war für mich ein Syno-nym für „Räuber“ geworden. Beim „Friedensrichter“ (giudice di pace) wurde eine Zwangsregelung des Gemeinschaftseigentums be- antragt, die im Jahre 2010 in ein Urteil einmündete, das bis heute das einzige konkrete Ergebnis der Anwaltsaktivitäten geblieben ist. Am 8. Oktober 2010 wurde meine Frau vor dem Strafgericht in Neapel für „schuldig“ befunden, die Garage neu gebaut zu haben. Gegen dieses (falsche) Urteil musste Berufung eingelegt werden. Neue Anwaltskosten! Der Termin für die Berufungsverhandlung fand am 17. Juni 2014 unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Dort wurde festgestellt, dass alles seit dem 23. Mai 2012 verjährt ist. Anklage, Urteil, Einspruch und Berufung waren damit inzwi- schen Makulatur geworden. Die dicken Geldbündel in den Ku- verts für die Rechtsanwälte allerdings nicht. Die Einsprüche beim Zivilgericht (TAR/Tribunale Amministrativo Regionale), die gleich nach dem Erhalt der städtischen „Verfügungen“ (ordinanze) ein- gelegt worden sind, wurden bisher noch nicht einmal in erster In- stanz gehört. Nachdem wir im Jahre 2009 unseren Rechtsanwalt geändert hatten, entstand angesichts neuer Recherchen und Reak- tionen von Seiten des Bauamts im Jahre 2010 die Notwendigkeit, diesen Einspruch beim TAR noch einmal neu und besser zu for- mulieren und zu begründen, was uns weitere 5000 Euro kostete. So kam zum Beispiel zum Vorschein, dass uns die Verkäufer der Wohnung verschwiegen hatten, dass sie schon im Jahre 1994 ein „Sanierungsgesuch“ für die Garage eingereicht hatten und dass es schon allein deshalb unmöglich war, dass wir sie selbst neu ge- baut hatten. Wir erhielten als Schadensersatz ziemlich lächerliche 5000 Euro von den Verkäufern, die alledrings nur flüchtige Tropfen auf den glühenden Kohlen waren, die für uns in den Anwaltsbü- ros ausgestreut worden waren. Auch die alte Teilungserklärung der zwei Brüder, in dem in den Achtzigerjahren die Besitzverhältnisse geregelt wurden, war voller Fehler und Widersprüche. Nach einem Besuch im Notararchiv von Neapel konnte ich zumindest schwarz auf weiß nachweisen, dass die „sieben Quadratmeter Gartenfläche“ in Wirklichkeit 34 bebaute Quadratmeter waren. Der Eintrag beim Katasteramt wurde (natürlich gegen Bezahlung) von einem neu bestellten Techniker entsprechend berichtigt. Der Kaufvertrag selbst musste neu geschrieben werden und ich musste mich monatelang mit dem Notar herumstreiten, weil ich nicht bereit war, ein zweites Mal die Notargebühren zu bezahlen. Der Kleinkrieg auf vielen Fronten ging weiter. Das Bauamt von San Giorgio schickte uns im Juni einen Bescheid, in dem das alte Sanierungsgesuch (condono) des Vorbesitzers mit der Begründung abgelehnt wurde, dass ich bei meiner Renovierung im Jahre 2006 strukturelle Änderungen (ma- nutenzione straordinaria) vorgenommen hätte. Da hatten unsere lieben Nachbarn mit ihren Beziehungen bis ins Bauamt des Städt- chens hinein ihre Finger mittendrin im bösen Spiel. Dagegen sollte der oben erwähnte neue zweite Einspruch beim TAR helfen. Wenn man weiß, dass die Garage einen Wert von vielleicht 15000 Euro hat, ist es eigentlich nur tragikomisch, wieviel jahrzehntelangen Aufwand die italienische Justiz betreibt, um die vorhandene oder fehlende Rechtmäßigkeit der schwarz gebauten Garage zu definie- ren. Wir haben schon mehr als diesen Betrag ausgegeben, um auf die zivil- und strafrechtlichen Folgen zu reagieren. Zum gegenwär- tigen Zeitpunkt ist trotz aller unserer Bemühungen die rechtliche Situation der Garage weiterhin „in der Schwebe“ (sospeso) und unentschieden. Es gibt zwar, als ich diese Zeilen schreibe, seit ein paar Wochen und bis Ende September 2016 die Möglichkeit, den alten, vom Vorbesitzer im Jahre 1994 eingereichten Sanierungsan- trag neu zu definieren, was wieder mit tausenden von Euro Kosten verbunden ist. Wann allerdings dann das Bauamt in San Giorgio a Cremano auf diesen neu eingereichten Antrag für eine Baugeneh- migung positiv reagieren wird, bleibt angesichts von 2700 solcher Anträge insgesamt, ein Lotteriespiel. Das ist die Rechtswirklichkeit hier. Klar wie Klärchens Kläranlage
Lauter fromme Nachbarn
Das Zusammenleben mit unseren Nachbarn gestaltete sich von Anfang problematisch. Es gab einen großen, fast 400 Quadratme- ter großen Hof als gemeinsam genutztes Eigentum, der sowohl als Park- als auch als Spielplatz diente. Da die Nachbarn drei Woh- nungen hatten, in denen sehr viel mehr Erwachsene und Kinder lebten als in unserer einzigen Wohnung mit unserer kleinen, drei- köpfigen Familie, das Gemeinschaftseigentum aber genau zur Hälf- te aufgeteilt und auch nie eine Eigentümergemeinschaft gegründet worden war, kochten die Konflikte schnell hoch. Unsere Nachbarn waren der Meinung, dass es keine Regeln bei der Nutzung der Hoffläche geben sollte und parkten sie deshalb voll mit den eige- nen Autos oder denen von Freunden und Bekannten. Wir hätten schließlich unsere Privatgarage im Hof und im Keller und sollten diese gefälligst für unsere beiden Autos nutzen. Wenn dann ab und zu eines dieser vielen Autos sogar die Zu- und Ausfahrt aus diesen Privatgaragen blockieren sollte, war das nach Ansicht unserer lieben Nachbarn alles halb so schnell. Dann sollten wir halt bei ihnen klingeln und sie würden (vielleicht) das blockierende Auto zur Seite fahren. Die Polizei habe sowieso keine gesetzliche Handhabe für ein Einschreiten, da es sich um Privatbesitz handle. Die übliche Lo- gik der neapolitanischen Rücksichtslosigkeit. Auch die Kleinkinder waren ein Problem. In der schönen Jahreszeit (und das heißt in Neapel vom März bis Oktober und besonders intensiv in der schul- freien Zeit von Juni bis September) tobten von morgens bis spät in die Nacht Horden von entfesselten Halbwilden im Garten herum, schossen mit Bällen auf Autos, Bäume und Personen, ließen Fahrrä- der und Spielzeug überall herumliegen und brüllten beim Versteck- spielen um die Wette. Wir waren stinksauer und versuchten mit den Nachbarn zu sprechen. Die Antwort war jedes Mal eine Flut von Schimpfworten. Man übergoss uns eimerweise mit verbalem Unflat, den wir zum Großteil noch nicht einmal verstanden, da un- sere Nachbarn sich im feinsten neapolitanischen Dialekt äußerten. Was tun? Im Jahr 2007 erst einmal gar nichts. Wir laborierten an unseren Bauproblemen herum, die uns ja auch unsere Nachbarn eingebrockt hatten, denn sie hatten uns die Polizei auf den Hals ge- hetzt. Wir hatten hohe Anwaltskosten. Auf Anraten unseres ersten Anwalts (der im Nachhinein gar nicht so unrecht hatte) waren An- zeigen gegen unsere Nachbarn zu vermeiden, die das ohnehin schon schwierige nachbarschaftliche Verhältnis noch mehr vergiften und zu einem endlosen Pingpong von Klagen und Gegenklagen führen würden. Wir schrieben also keine Anzeigen, sondern dachten uns „Abmahnungen“ (diffide) aus, die man in Italien bei der Staatspoli- zei (polizia di stato) einreichen kann. Die Polizei schaltet sich dann als Vermittler ein, zitiert die Gegenpartei aufs Revier und versucht die Streithähne zu beschwichtigen. Das hört sich alles sehr gut an, nützte aber in unserem Fall überhaupt nichts und führte im Gegen- teil zu einer immer weiteren Eskalation der Feinseligkeiten. Eigent- lich sollte eine dieser „Abmahnungen“ reichen. Intelligenti pauca. Wir haben insgesamt von März bis Dezember 2009 neun davon präsentiert! Gründe dafür gab es mehr als genug: Autos vor den blockierten Zu- und Ausfahrten, überlaute Musik, randalierende, kreischende Kinder, Beschimpfungen und Bedrohungen, ein Pam- phlet mit Verleumdungen am elektrischen Hoftor. Die Nachbarn suchten kein Gespräch mit uns. Im Gegenteil: Es kam regelmäßig zu gewalttätigen Reaktionen. Orangen wurden gegen die Garagen- wand im Hof geschleudert. Die Geranien samt Blumenkästen vor unseren Fenstern krachten auf den Boden. Ein Fenster im Trep- penaufgang wurde mit lautem Knall in hunderte von Stücken zer- deppert. Unser alter flaschengrüner Ford Escort wurde regelmäßig zerkratzt und bespuckt, wenn er auf dem freien Hofgelände und nicht in der Garage geparkt wurde. Öfter mal war auch unerklär- licherweise das Licht eingeschaltet und die Batterie leer, obwohl wir sicher waren, dass wir das Auto abgesperrt hatten. Die lieben Nachbarn kannten anscheinend die Kniffe und Tricks der Panzer- knackerbande. Allein im Jahr 2008 wurden von uns elf Anzeigen gegen Unbekannt geschrieben. Im April, Mai und Juni verschwan- den etliche Briefkästen oder die Namensschilder darauf wie von Geisterhand. Da meine Frau und ich arbeiteten und lange Stunden am Tag komplett abwesend waren, dagegen von unseren Nachbarn nur eine Person regelmäßig zur Arbeit fuhr, hatte das Pack leich- tes Spiel. Man hüpfte über die Mauer in unseren hinteren Garten und zertrümmerte eine Plastiktrennwand, die unsere Hunde auf dem Balkon blockieren sollte. Man riss unsere Pinnwand aus Kork herunter, die im Treppenhaus aufgehängt war. Man trat mit dem Fuß gegen unsere Balkonbrüstung, sodass danach ein faustgroßes Loch im Mörtel klaffte. Man zerkratzte unsere Wohnungstür aus Metall und schüttete das Nudelwasser gegen unsere Terrassentür im zweiten Stock. Man hob die Haustür aus den Angeln und stellte sie gegen die Wand, weil wir der Meinung waren, dass eine Haustür am Abend besser geschlossen wird. Nachdem wir die Tür wieder zurück in die Angeln gehoben hatten, folgten endlose Monate, in denen wir die Tür schlossen und unsere Nachbarn sie mit lautem Kreischen über den Marmorfußboden zerrten, um sie wieder zu öffnen. Irgendwann verschwand der Türgriff. Am Ende war die Tür so stark demoliert, dass man sie nicht mehr schließen konnte, selbst wenn man es gewollt hätte. Man schlug mit einem stumpfen Gegenstand (Hammer?) gegen den Plastiktisch, den wir im Vordergarten als Barriere positioniert hatten, sodass er in einem Teil- bereich zersplitterte, drückte die Zigarettenkippen auf ihm aus und zündete auf ihm an Silvester die Feuerwerkskörper, während wir in Deutschland waren. Man zerschnitt mit einer Schere oder einem Messer die Leinwand der Gartenstühle rings um den Tisch. Mit sol- chen Liebesbezeugungen wurden wir in den Jahren 2007 bis 2010 regelrecht überhäuft, hatten aber mit eigenen Augen selten direkt etwas gesehen. Augenzeugen, die bereit gewesen wären, zu unseren Gunsten auszusagen, gab es keine. Nur ein einziges Mal schien je- mand dazu bereit zu sein, doch er wollte 2000 Euro, was uns nur in noch mehr Schwierigkeiten wegen Bestechung eines Zeugen und Erpressbarkeit verwickelt hätte. Wir waren und blieben die „Deut- schen“, die alles zu schlucken und nichts zu sagen hatten. Weder gegenüber unseren Nachbarn, noch bei der Staatspolizei (polizia di stato) oder der Gendarmerie (Carabinieri). Im Winter 2008/2009 wurde es immer schlimmer. Am 23. November 2008 machte ich wieder einmal einige Fotos der vielen, im Hof parkenden Autos unserer Nachbarn und wurde von einem von ihnen anstelle eines freundlichen sonntäglichen „Guten Morgen“ mit einem deftigen „Arschloch“ (testa di cazzo) begrüßt. Am 7. Dezember 2008 (wie- der ein Sonntag!) waren wir gar nicht damit einverstanden, dass un- sere Nachbarn das Treppenhaus als ihr Privateigentum betrachteten und es, ohne uns zu fragen, weihnachtlich dekorierten. Der übliche heftige Streit war die Folge, während dessen wir mit Schimpf- und Drohworten überschüttet wurden. Diesmal ging ich alleine zur Po- lizei, um Anwaltskosten zu sparen, und erstattete am 17. Februar und am 6. März 2009 zwei weitere Anzeigen. Das Fass lief über. In der Nacht vom 11. zum 12. März 2009 wurde unser Ford Escort, der im Innenhof geparkt war, Opfer eines Brandanschlags und brannte vollständig. Wir erstatteten Anzeige gegen Unbekannt und hatten ein Problem. Sollten wir reagieren oder nicht? Das Auto war kaum mehr als tausend Euro wert, aber wie sollten wir nach einem solchen Anschlag, der nach Paragraph Dingsbums des Handbuchs der organisierten Kriminalität geplant und durchgeführt worden war, weiter mit unseren beschissenen Nachbarn zusammenleben? Sollten wir ausziehen oder vermieten?
Prozesshansel
Ein Krankenpfleger, der meine Frau Ende 2008 behandelt hatte, kam uns zu Hilfe. Er kannte eine seiner Meinung nach gute Rechts- anwältin, die für ihn selbst in der Vergangenheit erfolgreich tätig geworden war. Die geschäftstüchtige Dame mittleren Alters emp- fahl uns eine aggressive Angriffsstrategie. Sie schrieb eine viele Seite lange Erstanzeige (esposto), der im Laufe der nächsten Monate ein halbes Dutzend weiterer „Ergänzungen“ (integrazioni) folgten. Al- lein in den ersten drei Jahren ihrer Tätigkeit kassierte sie dafür fast 30000 Euro ab, wie üblich als „Anzahlungen“ bar auf die Kralle, mit dicken Geldbündeln in ausgebeulten Briefumschlägen, da in Italien Banknoten mit 200 Euro und 500 Euro nicht kursieren. Immer ging es um die Organisation und Nutzung des gemein- samen Eigentums, das unsere Nachbarn als ihr Privateigentum be- trachteten. Wir stritten uns auch wegen der Kinder, die im Keller vor der Einfahrt zur Garage spielten, über einen Hund im engen Zugang, der den Ein- und Auslass versperrte, wir zankten uns na- türlich immer wieder wegen der zu vielen Autos, die von den Nach- barn im Hof geparkt wurden. Wir zofften immer weiter und riefen ständig bei unserer Rechtsanwältin an, um neue Termine zu verein- baren, die eine seltsame Mischung aus priesterlichen Tröstungsge- sprächen, Voodoo-Sessions, psychoanalytischen Sitzungen und An- waltsaudienzen waren. Die Rechtsanwaltskosten schnellten natürlich in die Höhe. Irgendwann einmal (in zehn, in zwanzig, in dreißig Jahren?) würde die Gegenpartei alle Prozesse verlieren, uns die vorgestreckten Summen zurückerstatten und in einem aufge- wühlten Schuldenmeer an Strafzahlungen und Schadensersatzleis- tungen mit Mühlsteinen um die Hälse untergehen. So sprach nicht Zarathustra, sondern unsere Rechtsanwältin mit ihren blond ge- färbten Haaren. Wir nickten grimmig ab und zahlten brav unsere „Vorschüsse“. 6200 Euro im Jahre 2009 (plus 600 Euro für eine Brandschutzversicherung, weil wir im Sommer regelmäßig einen Monat fehlten und wir es nach dem Brandanschlag auf unser Auto mit der Angst zu tun bekommen hatten), 13000 Euro im Jahre 2010, 10500 Euro im Jahre 2011. Danach wurde es besser. Die geldgeile Rechtsanwältin forderte weniger Geld für ihre „Vorschüs- se“. Immerhin. Ich hatte begonnen, mich zu beklagen und gesagt, dass wir nicht in der Lage seien, auf Dauer eine solchen finanziellen Blutverlust zu überleben. Doch wie soll man sich fühlen, wenn man in so kurzer Zeit so viel Geld aus dem Fenster hinauswirft? Ende des Jahres 2010 war ich so fertig mit der Welt, dass ich einen Abschiedsbrief schrieb und mir das Leben nehmen wollte. Meine Hausärztin und eine Schulkollegin kamen und löschten die Lunte. 2011 kam die Erfolgsmeldung, dass gegen unsere Nachbarn wegen zahlreicher Straftaten (Brandstiftung, Stalking, Nötigung, Bedrohung, Verleumdung) ein Verfahren eingeleitet worden war. Doch die erste Verhandlung war erst Ende 2012 und wurde sofort und ohne jede inhaltliche Debatte um ein volles Jahr vertagt. Bis auf den heutigen Tag (immerhin fast sieben Jahre nach der Brandstif- tung!) ist nichts (noch nicht einmal in erster Instanz) entschieden worden. Lediglich meine Frau und ich sowie eine der Nachbarn haben bisher ihre Zeugenaussagen gemacht. Die Mühlen der Justiz mahlen hier in Neapel nicht langsam, sondern sind defekt und ein- gerostet. Bis zu einem Urteil in der ersten Instanz vergehen ohne Weiteres bis zu zehn Jahre. Bis dahin ist eh alles verjährt. Wenn die Gegenpartei in Berufung gehen sollte, dauert es nochmal drei bis fünf Jahre, bis in zweiter Instanz entschieden wird. In der Theorie gibt es sogar noch eine dritte Instanz, das Kassationsgericht in Rom. Und das ist nur der strafrechtliche Teil des Prozesses. Danach geht es ums Geld, das heißt, es wird darüber debattiert, wieviel Schadensersatz gezahlt werden und wer die Rechtsanwaltskosten übernehmen muss. Das heißt jahrzehntelange Vorschüsse an den Rechtsanwalt, die zusammengerechnet schnell schmerzhaft hohe Beträge werden, verbunden mit großer Rechtsunsicherheit, weil die Gesetze oft sehr vieldeutig formuliert sind, die Richter sehr unter- schiedlich entscheiden und die Gegenpartei oft mit Gegenklagen im genau gleichen Straffall reagiert. Es werden auch immer wieder landesweit Amnestiegesetze erlassen, die dadurch die ganze Mühe und das investierte Kapital zunichtemachen. Der Justizapparat ist dermaßen marode und aufgebläht, dass man zwangsläufig immer wieder hineinpiksen und Luft ablassen muss, damit der Ballon nicht mit einem lauten Knall in Fetzen fliegt. Keine guten Vorga- ben für jemanden, der Recht hat und sein Recht will. Doch Recht haben und Recht bekommen sind bekanntlich zwei verschiedene Paar Schuhe. Das sollte in jeder italienischen Justizaula hängen an- stelle des doofen Spruches „Das Gesetz ist für alle gleich“ (le legge è uguale per tutti). Meine Eltern 2009 erkrankten fast gleichzeitig schwer an Krebs und entschlossen sich, ihr kleines Reihenhaus in Ingolstadt zu verkaufen. Teile des Erbes wurden an die drei Kinder ausgezahlt. Auch meine Tante in München überwies uns einen größeren Betrag. Der Schwitzkasten unserer Anwälte wurde mit diesen unerwarteten Geldflüssen etwas gelockert. Im Sommer 2010 wurde von der zuständigen Friedensrichterin (giudice di pace) in Barra unserem Antrag auf eine Regelung der Nutzung des Gemein- besitzes stattgegeben. Wir bekamen ebenso wie die Gegenpartei zwei Parkplätze im Hof zugesprochen. Das Urteil stand auf gedul- digem Papier. Auch nach dem Urteil überschüttete die demenz- kranke alte Großmutter von ihrem Balkon Freunde, Bekannte oder Handwerker mit Schimpfwörtern und Drohungen, wenn sie brav auf den uns zugewiesenen Parkplätzen parkten. Haus und sein Hof gehören uns, uns, nur uns, schrie die böse Hexe aus dem Märchen. Wir waren im Käfig. Unsere Nachbarn zerhackten ihre alten Schränke und heizten mit dem giftigen Holz den Pizza-Ofen vor, den sie 2009 im Hof gebaut hatten. Es war sinnlos, an einen Fort- schritt des nachbarschaftlichen Verhältnisses zu glauben. Das war wie die Geschichte von Israel und Palästina. Ab dem Jahr 2012 zahlten wir unseren Rechtsanwälten sehr viel weniger als die Jahre zuvor, weil wir immer mehr die Lust und auch den Glauben verlo- ren, dass auf diese Weise grundlegend etwas geändert werden kön- ne. Ein gewisser Schlendrian und auch eine unvermeidliche Er- schöpfung machten sich breit. Manche unserer Anzeigen, die im Jahre 2011 und 2012 bei der Staatsanwaltschaft nicht ständig ange- mahnt wurden, wurden archiviert oder verschwanden im Nirwana verstaubter Schubladen und versiffter Schreibtische voll mit über- quellenden Aktenstapeln. Im Jahre 2014 und noch mehr im Jahr 2015 kam es dann aufgrund der zahlreichen Anzeigen und Gegen- anzeigen zu einer Anhäufung von Gerichtsaudienzen. Seltsamer- weise war die Gegenpartei besser dran als wir, denn sie hatten es geschafft, uns mit drei Strafprozessen vor den „Friedensrichter“ und mit einem Prozess sogar vor das Amtsgericht (tribunale ordinario) zu zerren. Es waren wirklich die neuen Abenteuer von Alice im neapolitanischen Wunderland. Wir hatten fast zehn Jahre den Sa- dismus unserer Nachbarn ertragen müssen und saßen jetzt auch noch wegen erfundener Straftaten auf der Anklagebank, die nur darauf warteten von falschen Zeugen „bestätigt“ zu werden. Im Kö- nigreich der Nepper, Schlepper und Bauernfänger tickten auch in den Gerichten die Uhren anders. Unser einziger Prozess vor dem Strafgericht, von dem wir uns so viel erwartet hatten, wurde wegen Abwesenheit des Zeugen vom Juli 2015 auf den Mai 2016 vertagt. Ansonsten trumpften unsere Nachbarn. Vor dem Amtsgericht log im Oktober 2015 eine Nachbarin als Zeugin, dass sich die Balken bogen. Die nächste Zeugenaussage der Anklage wurde auf Mai 2016 vertagt , wenige Tage vor der Audienz in unserem Prozess. Am 19. November 2015 waren wir in einem anderen Prozess vor dem Friedensrichter wegen Beleidigung und Körperverletzung in erster Instanz verurteilt worden und mussten in Berufung gehen. Zuvor kam es in diesem Prozess zu einem regelrechten Feuerwerk von Au- dienzen (April 2015, September 2015, Oktober 2015). Weitere zwei Prozesse vor dem Friedensrichter, deren Audienzen für De- zember 2015 festgesetzt worden waren, betrafen meine Frau und mich getrennt. Doppelt gelogen hält besser. Ich hätte angeblich eine der Nachbarinnen im November 2013 gerempelt und auf den Boden geworfen. Einer unserer Nachbarn (ein regelrechter Clan mit zwei verbundenen Wohnungen im Hochparterre und im ersten Stock, acht Erwachsene und vier Kinder plus Freunde, Bekannte und Fußballtröten) hatte seinen Spaß daran, gegen unsere Blumen- kästen zu treten, die wir regelmäßig trotz völliger Windstille umge- kippt auf dem Boden liegend vorfanden. Ich hatte dann einmal die Schwägerin dieses freundlichen Nachbarn stinksauer darauf hinge- wiesen, dass sie damit aufhören sollten, die Blumenkästen umzu- schmeißen. Als Dank für diesen Hinweis rannte die Dame wie eine gesengte Sau zur Polizei und zeigte mich an. Zeugin war ihre heute zwanzigjährige Tochter, die einige Zeit vergeblich ihr Glück als Zimmermädchen in England versucht hatte, aber dann wieder ins traute Hexenhaus nach San Giorgio a Cremano zurückgekehrt war. So konnte sie wieder bei Muttern futtern, Dialekt sprechen, die Einbahnstraßen in Gegenrichtung befahren und einen Korb nach dem andern bekommen. Sie litt unter Migräne und Depressionen, fraß sich kugelrund und hasste Gott und die Welt, aber vor allem uns. Nachdem wir ab dem Jahr 2013 unserer Rechtsanwältin sehr viel weniger bezahlten, ließ sie uns links liegen und von einem Praktikanten betreuen. Jetzt hatten wir drei Rechtsanwälte wie die schlimmsten Schwerverbrecher. Zivilrecht, Strafrecht, Praktikant. Den Praktikanten mussten wir natürlich eigens bezahlen. Allein für die Betreuung der drei Prozesse vor dem Friedensrichter veran- schlagte er die Anwaltskosten bei fast 8000 Euro. Bis Dezember 2015 hatten wir 5000 Euro davon gezahlt. Das übliche herausge- schmissene Geld für Aktenordner, deren Inhalte zum fröhlichen Altpapierrecyling bestimmt waren.
Paragraphenreiter
Im November 2015 verdichteten sich die Vorzeichen, dass auch die Gegenseite kein Interesse (und kein Kleingeld) mehr hatte, um bis zum Sankt-Nimmerleinstag weiter zu prozessieren und die Mastkälber in den Rechtsanwaltsbüros hochzupäppeln. Doch jetzt stellten sich unsere eigenen Verteidiger quer und wollten noch ein- mal absahnen! Von denen hatten wir nämlich für die verschiedenen Prozesse drei. Einer von ihnen verhielt sich korrekt, hatte selbst die Sinnlosigkeit der Prozesse eingesehen und war nicht scharf auf unser Geld, weil er als renommierter Strafrechtler Neapels Besseres zu tun hatte, als Zeit mit uns zu verlieren. Die letzte Zahlung an ihn lag schon über ein Jahr zurück und er „begnügte“ sich Anfang Januar 2016 mit einer Endzahlung von 2000 Euro (zahlbar in zwei Raten) für die verschiedenen Vollmachten und Vorsprachen zusam- men mit der Anwältin der Gegenpartei bei den einzelnen Richtern, um die Prozesse vorzeitig zu beenden. Er war auch der einzige, von dem wir Rechnungen mit Mehrwertsteuer bekamen. Nicht so jedoch die umtriebige Dame, in deren Rechtsanwaltsbüro 2009 nach dem Brandanschlag auf unser Auto alles begonnen hatte und die im Laufe der Jahre unsere Verteidigung um einen Strafrechtler und einen Praktikanten ergänzt hatte. Die Dame war eigentlich Zivilrechtlerin, aber eigentlich die klassische Anwältin-Für-Alles verflossener Jahrzehnte. Es fehlte nicht viel und sie hätte uns auch Waschmaschinen oder Kaffeeautomaten verkauft. Ihr Anwaltsbüro war der altbewährte italienische Familienkleinbetrieb oder, anders gesagt, die altbekannte unmoralische italienische Großfamilie. Das Büro selbst (in Ercolano) gehörte zur Privatwohnung, zwei ihrer Schwestern arbeiteten ebenfalls als Rechtsanwältinnen dort, ihr Mann war Marinekapitän und angelte oft Kunden aus seinem Ar- beitsmilieu für seine Frau (Arbeitsprozesse, Schadensersatzklagen bei Schiffsunfällen und ähnliches). Für ihre Kinder funktionierte dieses klassische Prinzip des italienischen Familien-Clans allerdings nicht mehr. Ihr behinderter Sohn kam für eine Gerichtskarriere ohnehin nicht in Frage. Ihre beiden Töchter studierten und arbei- teten weit weg im nebligen Mailand. Irgendwann musste der Preis eines korrupten und eingerosteten Justizsystems ja fällig werden, wo Prozesse jahrzehntelang versumpfen, die Verjährung regelmäßig fröhliche Urständ feiert, chronisches Tohuwabohu den Ton angibt und Horden von Rechtsanwälten alle Zeit der Welt haben, ihre Vampirzähne anzusetzen. Nachdem der Ausstieg aus der Justiz- mühle beim Strafrechtler verhältnismäßig glimpflich vonstatten- gegangen war, gestaltete sich die entsprechenden Verhandlungen bei der Zivilrechtlerin viel komplizierter. Sie wollte nochmal Kohle, viel Kohle. Ich merkte bei dem Treffen am 19. Januar 2016 schnell, dass wir in der Geldfalle saßen und dass es wieder einmal um völlig überzogene und unberechtigte finanzielle Forderungen ging. Des- halb stand ich nach einigen kurzen Sätzen auf und ging grußlos weg. Es war das letzte Mal, dass ich die Zivilrechtlerin und ihren Praktikanten (für die Prozesse vor dem „Friedensrichter“) sehen sollte. Meine Frau verhandelte eineinhalb Stunden weiter, wäh- rend ich draußen in der Nachtkälte auf der Straße frierend auf- und abging, und schaffte es mit viel Mühe, die Abschlusszahlung von 6000 auf 3000 herunterzudrücken, zahlbar in zwei Raten zu je 1500 Euro. Schluck! Das waren, alles zusammengerechnet, fast 7000 Euro in einem Vierteljahr für die drei Rechtsanwälte. Unsere kleine familiäre Hausbank war wieder einmal nahe am Bankrott und nur mit Ach und Krach kratzten wir vom Topfboden die nöti- gen Heller und Pfennige zusammen. Ich schwor mir, niemals mehr in meinem Leben ein Rechtsanwaltsbüro zu betreten. Insgesamt hatten wir Rechtsanwälte und Techniker zusammengerechnet, bis zum Frühjahr 2016 in zehn Jahren unseres Aufenthalts in San Gi- orgio a Cremano ca. 75000 Euro ausgegeben. Kaum zu glauben, aber wahr. Unsere Wohnung hatten wir zum Glück recht „gut“ verkauft, aber trotzdem noch einmal ca. 45000 Euro verloren, weil mit der schweren Wirtschaftskrise ab 2007 die italienische Immo- bilienblase geplatzt war und die Wohnungen durchschnittlich ein Drittel ihres Wertes verloren hatten. San Giorgio a Cremano hatte uns also einen Verlust von 120000 Euro eingebracht. Genau das, was wir beim Immobilienkauf in Verona durch die Umstellung von der Lira zum Euro verdient hatten, war jetzt verloren gegangen. Wie gewonnen, so zerronnen.
Das Blut der Fußballgötter
In Neapel geschehen jedes Jahr Zeichen und Wunder. Das Blut des heiligen Januarius verflüssigt sich zweimal, manchmal sogar dreimal im Jahr (am Samstag vor dem 1. Mai, am 19. September und seltener am 16. Dezember). Das ist natürlich Humbug, aber viele glauben trotzdem daran. Volksmystik, genauso wie die kranke Fußballbegeisterung der Stadt und die Verehrung der vertrottelten und steinreichen Fußballspieler der Heimmannschaft wie Heilige. Ein Ausbleiben des Blutwunders und eine Niederlage des SSC Na- poli gelten in der Stadt als schlimme Omen. Am 3. April 2016 ver- lor Neapel gegen Udine und zwei Spieltage später gegen Inter Mai- land. Am 25. April 2016 erlitt Neapel eine unglückliche Niederlage gegen Rom und musste sich den Traum, Landesmeister zu werden, auch dieses Jahr abschminken. Der Titel des Herbstmeisters nach 26 Jahren hatte trotz Prophezeiung von Diego Maradona nicht für den Meistertitel genügt.
Temporary like the summer
Seit ein paar Wochen ist hier alles in Bewegung. Meine Frau und ich sind nach Rom versetzt worden. Wir haben zum Glück einen Käufer für unser Hexenhaus in San Giorgio a Cremano gefunden und wollen in den nächsten Monaten selbst eine Wohnung in Rom kaufen. Erst einmal gehen wir jedoch drei Monate (von September bis November) in Miete. Wir waren im August zehn Tage in Berlin, haben aber (shame on us!) die meiste Zeit vor dem Computerbild- schirm verbracht, um eine Wohnung in Rom zu finden. Nachdem jahrzehntelang keine Möglichkeit bestanden hatte, aufwändigere Renovierungsarbeiten (manutenzione starordinaria) vom Bauamt in San Giorgio genehmigt zu bekommen, ergaben sich ab Ende 2014 durch Matteo Renzis „Sblocca Italia“ neue Per- spektiven. Leider kam für uns allerdings viel zu spät, wir hatten schon längst in den sauren Apfel der Prozesse gebissen und waren fast daran erstickt. Immerhin gab es jetzt die Möglichkeit, in relativ kurzer Zeit eine nachträgliche Baugenehmigung für die Renovie- rung der Kellerwohnung im Jahre 2006 zu bekommen. Das war der dritte Anlauf und auch der kostete wieder viel Geld. Da wir zur gleichen Zeit einen Käufer für die Wohnung gefunden hatten, mussten wir für knapp dreitausend Euro auch die drei Grünflä- chen, die falsch im Grundbuch eingetragen waren, neu registrieren lassen. Auch da hatte ich einen Fehler gemacht, denn schon beim Wohnungskauf im Jahr 2006 hätte ich darauf bestehen müssen, dass die falschen Einträge der Grünflächen vor dem Notarvertrag berichtigt worden wären. Sonst noch etwas? Es gab jetzt sogar die Möglichkeit bis Ende September 2016 einen Antrag zur nachträg- lichen Sanierung der vom Vorbesitzer schwarz gebauten und von mir renovierten Garage einzureichen. Das ist auch wieder mit Kos- ten verbunden. Im November 2016 wird voraussichtlich der nota- rielle Kaufvertrag unterzeichnet. Bis dahin müssen wir entscheiden, ob wir die Garage gratis in den Kaufvertrag integrieren oder eigen- ständig verkaufen werden. Als wir am 24. Juli 2016 von einem zweitägigen Besuch in Rom zurückkamen, fanden wir das Garagenschloss mit Sekundenkleber verschmiert. Wir mussten am Tag darauf einen Schlüsseldienst kommen lassen, der das Schloss ersetzte. Am 4. August 2016 kamen wir aus Berlin zurück. Meine Frau beklagte sich über zwei fehlende Blumenvasen aus pietra leccese. Als sie eine Woche später am 11. August ihren Hausschlüsselbund im Garten vergessen hatte, war der zwei Stunden später nicht mehr aufzufinden. Uns blieb nichts anderes übrig, als wieder für teures Geld den Schlüsseldienst kom- men zu lassen und das Wohnungstürschloss auswechseln zu lassen. Mit einer diebischen Elster als Nachbarin lebt’s sich schlecht. Oder hätte ich sie mit einem giftigen Skorpion vergleichen sollen? Bob Dylan sang vor 50 Jahren: I watch upon your scorpion//Who crawls across your circus floor. Temporary like Achilles.
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