Böhmen liegt am Meer

Ingeborg Bachmann
Böhmen liegt am Meer

Sind hierorts Häuser grün, tret ich noch in ein Haus.
Sind hier die Brücken heil, geh ich auf gutem Grund.
Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.

Bin ich’s nicht, ist es einer, der ist so gut wie ich.

Grenzt hier ein Wort an mich, so laß ich’s grenzen.
Liegt Böhmen noch am Meer, glaub ich den Meeren wieder.
Und glaub ich noch ans Meer, so hoffe ich auf Land.

Bin ich’s, so ists ein jeder, der ist soviel wie ich.
Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.

Zugrund – das heißt zum Meer, dort find ich Böhmen wieder.
Zugrund gerichtet, wach ich ruhig auf.
Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.

Kommt her, ihr Böhmen alle, Seefahrer, Hafenhuren und
Schiffe unverankert. Wollt ihr nicht böhmisch sein, Illyrer, Veroneser,
und Venezianer alle. Spielt die Komödien, die lachen machen

Und die zum Weinen sind. Und irrt euch hundertmal,
wie ich mich irrte und Proben nie bestand,
doch hab ich sie bestanden, ein um das andre Mal.

Wie Böhmen sie bestand und eines schönen Tags
ans Meer begnadigt wurde und jetzt am Wasser liegt.

Ich grenz noch an ein Wort und an ein andres Land,
ich grenz, wie wenig auch, an alles immer mehr,

ein Böhme, ein Vagant, der nichts hat, den nichts hält,
begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

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Einige schnelle, unsystematische Gedanken.

Das Gedicht wurde Ende 1968 im „Kursbuch“ Hans-Magnus Enzensbergers veröffentlicht und gehört zu den 20 Gedichten, die Ingeborg Bachmann noch nach ihrem zweiten Gedichtband („Die Anrufung des Großen Bären“ (1956)) veröffentlicht hat. Das „literarische Fräuleinwunder“ verstummte oder verlegte sich aufs Schreiben von Prosa. „Schweigen ist die beste Poesie“ war offensichtlich ihr Motto geworden. Das war natürlich ein unauflöslicher Widerspruch.

Über Gedichte habe ich immer am wenigsten gesagt … Während ich sie geschrieben hab‘, habe ich nichts darüber zu sagen gewusst. Seit ich keine mehr schreibe, weiß ich überhaupt nichts mehr darüber zu sagen (Ingeborg Bachmann im Gespräch mit Otto Basil, 14. April 1971)

Das Gedicht „Böhmen liegt am Meer“ verwendet in 14 seiner insgesamt 24 Verse einen klassischen Alexandriner, in dem der Satz mit dem Vers endet. Der Alexandriner ist ein klassisches Versmaß des „hohen Stils“, der hauptsächlich im Barock verwendet wurde.

Du si̱ehst, wohi̱n du si̱ehst,  ‖  nur E̱itelke̱it auf E̱rden.

Was di̱eser he̱ute ba̱ut,  ‖  reißt je̱ner mo̱rgen e̱in,

Wo je̱tzt noch Stä̱dte ste̱hn,  ‖  wird e̱ine Wi̱ese se̱in,

Auf de̱r ein Schä̱ferski̱nd  ‖  wird spi̱elen mi̱t den He̱rden.

(Andrea Gryphius, „Es ist alles eitel“)

Möglicherweise gibt es da eine (ich glaube bisher noch nicht erwähnte) Verbindung zu Shakespeares „A Winters Tale“, wenn „Perdita (Die „Verlorene“) bei böhmischen Schäfern aufwächst.

Der Alexandriner hat eine Zäsur in der Mitte und stellt in seiner klassischen, reinen Form zwei Antithesen gegeneinander. Diese dialektische Struktur prägt das ganze Gedicht Bachmanns, auch und vor allem in seinem Inhalt. Die strenge Form des puren Alexandriners wird allerdings immer wieder, vor allem am Ende des Gedichts gesprengt und zu einem hymnischen, nicht mehr in Formfesseln gelegten Sprechen der Befreiung. Die Dialektik der Form (starres, klassisches Versmaß – ekstatischer Aufruf) entspricht dem Inhalt des Gedichts, das zwischen Ich-Auflösung und Rettung pendelt. Beeindruckend ist hier der Wortgebrauch Zugrund, auf gutem Grund (man erwartet eigentlich „aus gutem Grund“), zugrunde gehen, von Grund auf.  Die Bachmann verwendet hier Paul Celans Wort unverloren aus seiner berühmten Bremer Rede aus dem Jahre 1958, wo Celan ein poetisches Manifest verkündet, das genauso für Ingeborg Bachmann gelten könnte.

Erreichbar, nah und unverloren inmitten der Verluste blieb dies eine: die Sprache. Sie blieb unverloren, ja, trotz allem. Aber sie mußte nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwortlosigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, angereichert von all dem. (Paul Celan, Bremer Rede, 1958)

Inhaltlich äußert sich diese dialektische Spannung im Gedicht schon allein und vor allem im Titel, der beim ersten Blick unverständlich bleibt. Wie soll ein Binnenland wie Böhmen am Meer liegen? Erst wenn man weiß, dass Bachmann in dieser Zeit der Trennung von Max Frisch und West-Berlin, in der sie zum vierhundertjährigen Geburtstag im Jahre 1964 Gedichte für Shakespeare schreiben sollte, viel Shakespeare gelesen hat, hellt sich das Dunkel des Titels auf. Denn Shakespeare hat in „The Winters Tale“ tatsächlich den fiktiven Ort „Bohemia“ erwähnt: Bohemia: a desert country near the sea. Hier sind dann schon alle Elemente für Bachmanns utopische Heimat in der Literatur: eine Mischung aus Österreich und Italien, den Hauptwohnorten ihres Lebens (Böhmen war bis 1918 Teil des Kaiserreichs Österreich-Ungarn; in Shakespeares „The Winters Tale“ lässt Leontes, König von Sizilien, Perdita, die vermeintlich ehebrecherische Tochter von Polixenes, König von Böhmen, an der böhmischen Küste aussetzen). In diesem utopischen Land der Literatur können alle leben: Seefahrer, Hafenhuren, unverankerte Schiffe, Illyrer (ein sagenhaftes Volk der Antike, das auf dem Balkan und in Südostitalien lebte, Barbaren für die Griechen), Veroneser, Venezianer, Vaganten (Bohemiens), die nichts haben und die nichts hält, wie die Klagenfurter Dichterin im Gedicht im Singular sagt.

Hier geht es also um Heimat, die eine heimatlose Ingeborg Bachmann im Navi sucht. Dass wir mit solchen Überlegungen auf der richtigen Fährte sind, beweist ein zweites der drei Gedichte, die 1968 im „Kursbuch“ veröffentlicht wurden.

Prag Jänner 64

Seit jener Nacht

gehe und spreche ich wieder,

böhmisch klingt es,

als wär ich wieder zuhause,

wo zwischen der Moldau, der Donau

und meinem Kindheitsfluß

alles einen Begriff von mir hat.

Gehen, schrittweis ist es wiedergekommen,

Sehen, angeblickt, habe ich wieder erlernt.

Gebückt noch, blinzelnd,

hing ich am Fenster,

sah die Schattenjahre,

in denen kein Stern

mir in den Mund hing,

sich über den Hügel entfernen.

Über den Hradschin

haben um sechs Uhr morgens

die Schneeschaufler aus der Tatra

mit ihren rissigen Pranken

die Scherben einer Eisdecke gekehrt.

Unter den berstenden Blöcken

meines, auch meines Flusses

kam das befreite Wasser hervor.

Zu hören bis zum Ural.

Auch hier, bei einer Winterreise ins verschneite Prag, ist wieder von wiedergefundener Heimat die Rede, speziell am Anfang des Gedichts. Von wiedergefundener Sprache, von Flüssen, von Österreich-Ungarn. Doch wie immer bei Ingeborg Bachmann bleiben Widersprüche und Ungereimtheiten, tut sich eine Kluft auf zwischen Verstand und Gefühl. Böhmisch klingt es, als wär ich wieder zuhause. Das klingt wie eine Befreiung vom geliebten, aber sprachlich fremden Italien und vom ungeliebten norddeutschen preußischen Berlin, doch vielleicht schwingt hier auch das Sprichwort von den „böhmischen Dörfern“ mit. Ist die ersehnte Heimat nur Lug, Trug und Spuk? Eine verfälschende Kindheitsnostalgie, die sich als unverständliche, tschechisch sprechende Fremde entpuppen wird?

Eine andere Verständnismöglichkeit des Gedichts hängt mit der politischen Situation der damaligen Tschechoslowakei zusammen. 1964 sprach man vom „Prager Frühling“, der Hoffnung machte auf einen „humanen Sozialismus“ bis zum Ural (sprich Moskau und Russland), eventuell auch im kapitalistischen Westen. Im Sommer 1968 endete diese Utopie mit dem Einmarsch von russischen Panzern. Übrig blieb dann nur noch die literarische Utopie Shakespeares, von der Bachmann aber möglicherweise auch nicht mehr wirklich überzeugt ist. Die letzte Zeile von „Böhmen liegt am Meer“ bleibt für immer mehrdeutig:

Begabt nur noch, vom Meer, das strittig ist, Land meiner Wahl zu sehen.

Der Vers ist so ungrammatikalisch und unverständlich, dass genügend Platz für immer neue Interpretationen bleibt.

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