
Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
Dass ich Arthur Schopenhauer Mitte der 80er Jahre kennengelernt und die 4 Bücher der Diogenes-Taschenbuchausgabe der ersten und zweiten Fassung der „Welt als Wille und Vorstellung“ damals regelrecht verschlungen habe, darüber habe ich schon an verschiedenen Stellen geschrieben. Seine Lektüre war damals für mich eine buchstäbliche Erleuchtung, hatte ich mir doch die Jahre zuvor immer wieder meinen unphilosophischen Kopf blutig geschlagen beim für mich frustrierenden Lesen von Philosophen wie Hegel, Kant, Leibniz, der Frankfurter Schule etc. Einmal Schopenhauerianer, immer Schopenhauerianer. Ob und wie seine Philosophie inzwischen für die Superexperten überholt sein mag, spielt dabei keine Rolle.
Nach fast 40 Jahren war nun vielleicht die Zeit gekommen, meine Verehrung für Arthur Schopenhauer nochmals auf den Prüfstand zu stellen. Sagt er doch selbst in der Vorrede zur ersten Auflage, dass sein Buch mindestens zweimal zu lesen sei. War er immer noch flüssig und genussvoll zu lesen? Waren seine Einsichten immer noch nachvollziehbar für mich? Gefiel mir seine Polemik vor allem gegen seinen Todfeind Hegel immer noch?
In derselben Vorrede zur 1. Auflage der „Welt als Wille und Vorstellung“ empfiehlt Schopenhauer als Propädeutikum zumindest zwei eigene Bücher: „Die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ (welch ein Titel!) sowie die Kritik der kantianischen Philosophie im Anhang der 1. Auflage seines Hauptwerkes. Folgen wir also den Anweisungen des Meisters.
Die Dissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“ hatte Schopenhauer schon 1813 veröffentlicht und dann 1847 in einer zweiten Auflage nochmals überarbeitet (in der vom „Felix Meiner Verlag“ veröffentlichten Aufgabe werden die beiden Versionen gegenübergestellt und sind auch die häufigen fremdsprachlichen Zitate ins Deutsche übersetzt). Es ist schon erstaunlich, mit wieviel Selbstbewusstsein ein gerade mal 25-jähriger Schopenhauer Immanuel Kant auseinanderpflückt und die komplette Philosophiegeschichte Revue passieren lässt, um zu schweigen von den unglaublichen Fremdsprachenkenntnissen im Altgriechischen, Latein, Spanisch, Italienisch, Englisch etc. Die manchmal sehr langen altgriechischen Zitate (die das Verständnis eher erschweren als erleichtern) werden von ihm „zum besseren Verständnis“ dann ins Lateinische übersetzt! Heidewitzka, Herr Kapitän! Da fehlt uns allen inzwischen der Werkzeugkasten. Eine ähnliche Einschätzung gilt dann auch für sein wenig später 1819 erschienenes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ mit gerade einmal 31 Lebensjahren. Da war wirklich ein frühreifes Genie mit gesundem Selbstbewusstsein am Werkeln, ähnlich vielleicht wie (ein vergleichsweise kranker) Friedrich Nietzsche nach ihm. Was bei der Lektüre Schopenhauers speziell auffällt jenseits von inhaltlichen Thematiken, die zu diskutieren mich hier weniger interessieren und die man tausendfach überall nachlesen kann, ist ihre seltsame Mischung aus einem schwurbeligen, altertümelnden Schreibstil der Goethe-Zeit mit ihren endlosen Perioden einerseits und, andererseits, einer überall durchblitzenden erstaunlichen Modernität nebst frecher Polemik gegen die verachtete Professorenphilosophenzunft, die nur aus leeren Windbeuteln und geistlosen Scharlatanen bestehe, während er selbst, einsam, stolz und redlich, die Fahne der Wahrheit gegen den Wind halte.
Schopenhauer war seiner Zeit 50 Jahre voraus und hat dieses biographische Drama der Nicht-Beachtung und Nicht-Berufung auf einen gut besoldeten Universitätsposten immer wieder sarkastisch kommentiert. Er wird somit auch ein weniger tragischer, moderner Giordano Bruno, ein Kämpfer für Ehrlichkeit und Wahrheit, gegen Intrigen, Filz, Opportunismus, Rückständigkeit. Aufgepasst: politisch war Schopenhauer konservativ bis reaktionär, belferte gegen die Revolution von 1848 und hinterließ sein Vermögen den Geschädigten dieser Revolution.
Die Dissertation selbst baut auf altbekannten und damals noch viel diskutierten Theorien des menschlichen Erkenntnisvermögens auf, die bis auf die altgriechische Philosophietradition zurückreichen, aber bei Schopenhauer vor allem Kants Erkenntnistheorie zur Grundlage haben. Der Satz vom zureichenden Grunde des Werdens analysiert den Verstand, der auf der Grundlage von Zeit, Raum und Kausalität Veränderungen an der Materie feststellt. Diese intuitiven Erkenntnisse sind für Schopenhauer die ursprünglichsten und wichtigsten, auf denen alle weiteren Erkenntnisse aufbauen. Für diesen ersten und wichtigsten Satz verwendet Schopenhauer dann auch immerhin 80 von den insgesamt 200 Seiten des Buches.
Den zweiten Erkenntnisgrund nennt Schopenhauer Vernunft, die auf dem Satz vom zureichenden Grund des Erkennens beruht. Das Reich der Begriffe, Abstraktionen, Vorstellungen von Vorstellungen, wie sie Schopenhauer etwas verächtlich nennt. Dieses fünfte Kapitel hat gerade einmal 20 Seiten. Die beiden ersten Sätze scheinen mir philosophischen Laien noch relativ einleuchtend, sieht man von den immer wieder eingestreuten, zum Teil viel zu langen und ermüdend zu lesenden fremdsprachlichen Zitaten aus der Philosophiegeschichte und Weltliteratur ab. Schopenhauer hatte eine Allgemeinbildung, die in unseren heutigen flüssigen, vom Internet beherrschten Gesellschaften gar nicht mehr möglich ist.
Etwas schwerer tue ich mich bei den beiden letzten Sätzen (vom zureichenden Grunde). Den Satz vom Grunde des Seins und schließlich den Satz vom Grunde des Wollens. Beiden Sätzen widmet Schopenhauer vielleicht nicht ohne Grund gerade einmal jeweils 10 Seiten. Der Satz vom Grunde des Seins (reine Sinnlichkeit) ist für mich nur schwer zu trennen vom allerersten Satz vom Grunde des Werdens. Da dieser dritte Satz hauptsächlich im Reich der Arithmetik und Geometrie Anwendung findet und ich hier schnell Verständnisschwächen offenbaren muss, liegt mein Unverständnis möglicherweise an fehlender mathematischer Disposition. Schopenhauers Beispiele überzeugen meinen wenig philosophiebegabten Hirnkasten deshalb nicht recht.
Der Satz vom Grunde des Handelns (Selbstbewusstsein) holpert für mich sogar noch ärger die Zeilen entlang, denn hier wird es wirklich kompliziert. Das Ich teilt sich auf in ein erkennendes Ich (Ich erkenne) und ein wollendes Ich (Ich will). Das Subjekt des Wollens wird für das erkennende Subjekt ein Objekt. Hm, hm. Schopenhauer selbst nennt im § 42 diese doppelte Identität einen „Weltknoten“ und deshalb unerklärlich. Trösten wir uns damit, dass Schopenhauer selbst an seinen dunkelsten Stellen immer noch viel sympathischer und überzeugender ist als etwa Martin Heidegger:
Das Spiegel-Spiel der weltenden Welt entringt als das Gering des Ringes die einigen Vier in das eigene Fügsame, das Ringe ihres Werdens. Aus dem Spiegel-Spiel des Gerings des Rings ereignet sich das Dingen des Dinges.
Da lese ich dann doch lieber Arthur Schopenhauer.