
Hermann Hesse war der erste Schriftsteller, den ich 1977 bewusst gelesen habe, damals mit 17, in meinem Mansardenzimmer in Ingolstadt. Mit 17 hat man bekanntlich noch Träume. Und die erste Liebe vergisst man nie. Auch jetzt noch, nach 45 Jahren, fühle ich mich Hermann Hesses Gedankenwelt sehr nah, wenn ich mir die Bildbiografie aus dem Jahre 1979 durchlese, die von Volker Michels herausgegeben wurde. Wieviel ich damals von Hesse verstanden und wie wenig ich seit Jahrzehnten von ihm gelesen habe, scheint bei solchen Gefühlslagen unerheblich zu sein. Die damaligen wilden Lektüren des „Demian“, „Siddharta“ und „Steppenwolf“ waren für mich tiefe Einblicke in meine eigene kleine Seele. Seitdem konnte ich kein Musterschüler mehr sein, der für eine Frühform des K12 prädestiniert war, oder Arzt, Sportlehrer oder Informatiker werden, wie es mein Vater sicher gern gesehen hätte. Leonard Cohen hat einmal gesagt, dass ihm Garcia Lorca sein Leben ruiniert habe. Ähnliches gilt wohl auch für mich und Hermann Hesse. Allein Hesse Lieblingsautoren wurden von mir 1:1 abgekupfert und übernommen: Kafka, Robert Walser, Dostojewski, Musil, Rilke, Hölderlin, Novalis, um nur ein paar Namen zu nennen. Hermann Hesse war für mich ein paar Jahre lang ein geistiger und spiritueller Guru, mehr noch als später die nordamerikanischen Rockmusiker.
Abgesehen von solchen biographischen Anekdoten, ist die Wichtigkeit Hesses unumstritten. Heute ist er ja ein bisschen in Vergessenheit geraten. Das wird sicherlich nicht nur Zufall sein. „Tapferkeit, Eigensinn und Geduld“ hat er einmal in einem Brief als Waffen gegen die Infamitäten des Lebens anempfohlen. Ich befürchte, dass die heutigen Generationen von solchen Eigenschaften wenig halten und haben. Beliebt war Hermann Hesse in den Hippie- und Nach-Hippie-Zeiten, in den 60ern, 70ern und auch noch 80ern. Damals erreichte er Millionen von Lesern mit seinem Nonkonformismus, mit seinem Glauben an die Selbstverwirklichung, mit seinem Individualismus, mit seinem Wunsch der Veränderung der Gesellschaft durch die Erneuerung jedes Einzelnen. Heute haben wir Mühe mit solchen hochgesteckten Idealen. Hermann Hesse stellt einen der zwei großen und fundamentalen Pole der modernen (deutschen) Literatur dar: Introspektion, Psychoanalyse, Spiritualität. Der andere Pol ist Bert Brecht: keine Kontemplation, sondern politische Aktion, Wirkung nach außen auf die Massen, die ein Klassenbewusstsein entwickeln und die Revolution verwirklichen.
Was beim Lesen von Michels Biographie immer wieder auffällt, ist die seltsame, eigentlich völlig unvereinbare Mischung aus Hesses extremer Misanthropie und seiner Neigung zur Philanthropie. Wie um Himmels willen soll das alles zusammenpassen? Der Einsiedler, Außenseiter, Einzelgänger, Eigenbrötler, spirituelle Anachoret im „Siddharta“ und später der „dirty old man“ à la Bukowski (anti litteram) im „Steppenwolf“. Einerseits Hesses offensichtliche persönliche Probleme, die Reise nach innen und die psychische Evolution im „Demian“, die als Ursache oder Konsequenz zur Einweisung in die Psychiatrie und zur Scheidung von seiner ersten Frau sowie zur Fremdadoption seiner drei Söhne führte, dann Hesse enorme Bekanntheit spätestens seit „Siddharta“ in der Weimarer Republik, seine auch biographisch überzeugende Annäherung westlicher und östlicher Spiritualität, seine immer stärker gewünschte Rolle als „Beichtvater der Nation“, die Kraft und Energie, mit 50 Jahren mit dem „Steppenwolf“ noch einmal alles über den Haufen zu werfen und zum Teufel zu schicken, indem er einen letzten Tango in Zürich inszenierte, inmitten von Drogen, Musik, Charleston und Frauen. „Sex and drugs and rock and roll“ war 30 Jahre später genau dasselbe, das haben die Blumenkinder sehr genau gespürt. Timothy Leary empfahl vor den LSD-Trips die Lektüre von Hesses „Siddharta“ und „Steppenwolf“ und war felsenfest davon überzeugt, dass Hesse in seinen Büchern eine durch Drogen hervorgerufene Selbstauflösung beschreibe. Hesse wäre damit vermutlich nicht einverstanden gewesen, aber manchmal zählt die Wirkung mehr als die ursprüngliche Absicht. Das alles einerseits.
Andererseits haben Hesse in seinen letzten 30 Lebensjahren, als er eigentlich gar nichts Neues mehr veröffentlicht hat, unglaublich viele Leute in seiner schmucken Villa im Tessin besucht und brieflich kontaktiert. Regelrechte Besucherströme von bekannten Schriftstellern, Musikern, Malern wollten das Gespräch in Montagnola, für viele Nazi-Verfolgte (auch Bert Brecht) war der Schweizer Staatsbürger erster Anlaufpunkt bei der späteren Emigration. Es soll 30.000 beantwortete Briefe und 3.000 Bücherrezensionen von Hermann Hesse geben. Hesse half mit unglaublichem Altruismus jahrzehntelang mit Rat und Tat, lebte ein volles Leben in ständigem Geben und Nehmen, war gleichzeitig passiver Nutznießer und selbst aktiver Mäzen, vermittelte Arbeit, schrieb Empfehlungen. Ein Philanthrop und Gärtner bei der Arbeit. Die Villa im Tessin, in der Hesse seit Anfang der 30er Jahre wohnte, wurde ihm von dem Schweizer Industriellen Bodmer gebaut. Hesse selbst legte Wert darauf, dass die Grabstelle in San Abbondio der einzige Grundbesitz in seinem Leben blieb. Hesse Buchrezensionen beeinflussten in entscheidender Weise das Kulturleben Deutschlands während der Nazizeit und den ersten Jahren der neuen Bonner Bundesrepublik.
Auf Hermann Hesse kann Deutschland wirklich stolz sein.