Hans Haller sieht nach langer Zeit Neapel wieder und stirbt trotzdem nicht. Außer einer dilettantischen Flugblattaktion fällt ihm nichts Besseres ein, um auf die Spuren der beiden Mädchen zu kommen. Pasquale Napolitano taucht aus dem Gully auf und versucht, ihn abzulinken. Am Ende kehrt Hans Haller ohne Ergebnis nach Berlin zurück.
Als Hans Haller für die Kaffeefirma in Triest arbeitete, war er öfter in Neapel, weil er bei Produktionsengpässen die Röstanlage einer Firma in Melito benutzte. Bekanntlich ist Neapel ja ein Paradies für Kaffeetrinker. Caffè lungo, caffè doppio, tazza fredda, tazza calda. Da lacht die Kaffeebohne. Lang ist´s her und bekanntlich gibt es nichts, was uns mehr betrügt als unsere Erinnerungen. Er kommt am Abend in Capodichino an und stellt fest, dass sich in der Stadt wenig geändert hat: Lärm, Chaos, Schmutz. Auf der Piazza Garibaldi, den man ihm als Entführungsort angegeben hatte, verkaufen die Hehler jetzt keine Zigaretten und Uhren mehr, sondern Smartphones und Tablets. Hans Haller sucht sich ein Hotel direkt am Bahnhof und konzentriert sich auf den morgigen Tag. Er will früh am Morgen als erstes bei der Polizei nachfragen, ob irgendwelche Neuheiten vorliegen. Davon erwartet er sich allerdings nicht viel, auch deshalb nicht, weil die Kompetenzen zwischen den drei Polizeiorganen Polizia di Stato, Carabinieri und Vigili unklar verteilt sind und so Durcheinander und Hilflosigkeit noch eine Entschuldigung mehr haben. Er hat Flugblätter auf Italienisch mit den Farbfotos der beiden Mädchen, von denen er sich mehr erwartet als von den offiziellen italienischen Ermittlungen. Als Kontaktadresse hat er seine Handynummer und E-Mailadresse angegeben. Die Höhe der darin erwähnten „Belohnung“ hat er bewusst offengelassen. Diese Flugblätter will Haller morgen Vormittag überall in den Geschäften, Bars, Imbissen auf der Piazza Garibaldi verteilen in der Hoffnung, dass sich jemand melden wird. Jetzt sitzt er in der Hotelrezeption und blättert in den deutschsprachigen Zeitungen, die im Foyer ausliegen. In einem Artikel über die süditalienische Metropole des ihm unbekannten Corriere Il Cretino Albino liest er von Neapels Polizeisirenen, Abfallbergen und Hupkonzerten. Viele Jugendliche haben hier nichts zu tun, lachen und reden zu viel und tanzen auf dem schwirrenden Seil zwischen Kriminalität und Armut. Im Fanshop vom SSC Neapel darf man keine Bücher lesen, keinen Kaugummi kauen, keine Fotos machen und keine falschen Fragen zur Camorra stellen. Die hat es in Neapel immer gegeben und wird es immer geben wie Pizza, den SSC Neapel und Weihnachtskrippen. Meint jedenfalls der Corriere Il Cretino Albino. Fußball ist Leidenschaft und Tränen. Wenn du ein Foto von mir machen willst, kostet das zehn Euro. Handeln ist erlaubt und am Ende begnüge ich mich auch mit fünf. Hier in Neapel ist alles ein bisschen ungefähr und zirka. Wir haben ein Riesenherz und fast immer mufflige Laune. Hans Haller liest auch, dass Neapel am Abend und in der Nacht besonders gefährlich und ein rechtsfreies Niemandsland für kriminelle Banden sei, beschließt aber trotzdem, in ein nahegelegenes Restaurant zu gehen, wo er keine Pizza, sondern eine norditalienische Lasagne und den unverschämt teuren und schlechten vino della casa bestellt. Dann geht er früh schlafen. Er ist ja schließlich nicht zum Urlaubmachen, sondern aus beruflichen Gründen in der Stadt, von der ihm der erste Teil des bekannten Sprichworts über sie mehr als genügt. Vedi Napoli e poi muori. Alles muss sich ändern, damit sich nichts ändert. Wer war das noch? Am nächsten Morgen ist er früh auf den Beinen. Nach dem Besuch bei Polizei auf dem Hauptbahnhofsgelände, wo seine negativen Vorahnungen Bestätigung finden und ihm ein mürrischer Mit-Fünfziger in speckiger Uniform zu bedenken gibt, dass die Mädchen ja volljährig seien und vielleicht nur beschlossen hätten, ihren Urlaub zu verlängern, geht Haller systematisch von Bar zu Bar, von Laden zu Laden, von Werkstatt zu Werkstatt und drückt den Verkäufern, Handwerkern und Tagedieben sein Flugblatt in die Hand. Am Nachmittag ruft ihn jemand in einem stark dialektal eingefärbten Italienisch an, das Haller nur mit großer Mühe versteht. Er hofft, nicht alles falsch verstanden zu haben und erscheint pünktlich am vereinbarten Treffpunkt vor dem Gebäude des größten italienischen Elektrizitätsversorgers auf dem Gelände des Centro Direzionale. Der Mann kommt tatsächlich, Mitte dreißig, dunkler Typ und ungepflegt, er macht einen schlechten, schmierigen Eindruck. Er heißt Gennaro Russo und behauptet, zu wissen, wo die zwei Mädchen seien. Um mehr zu sagen, will er erst einmal 2000 Euro. So dumm, irgendeinem wildfremden Ganoven 4 rosa Lappen rüberzuschieben, ist selbst Hans Haller noch nicht. Er vereinbart einen Scheintermin für morgen Nachmittag um drei am gleichen Ort, angeblich, weil er so lange benötigt, um das Bargeld zu organisieren. Ciaone. Der dritte Tag Hallers in Neapel verläuft ereignis- und ergebnislos. Er verteilt am Vormittag noch einige Flugblätter, diesmal südlich von der Piazza Garibaldi bis zur Via Giuseppe Pica. Am Nachmittag fährt er aus Langeweile mit der Circumflegrea von Montesanto nach Cuma und besucht dort die Orakelhöhle der Sibilla. Ich finde sie. Ich finde sie nicht. Am nächsten Morgen fliegt Hans Haller nach Berlin zurück. Außer Spesen wenig gewesen. Am Nachmittag berichtet er in einer längeren E-Mail Anna Mommsen über seinen Aufenthalt in Neapel und seine bisher vergeblichen Versuche, Kontakt mit Betty und Netty aufzunehmen.