Maria Mommsen im schönen Neapel. Sie gibt sich alle Mühe der Welt, aber stolpert ins Leere.
Die beiden Mädchen sind verschwunden. Auf Anrufe ihrer Klassenkameradinnen antworten sie nicht. Wo sind sie? Was tun? Maria Mommsen gerät erst in Panikstimmung und spricht dann mit ihrer Kollegin Susan Saitensprung. Sie entscheiden, dass Susan mit der Klasse nach Berlin zurückfliegt und Maria in Neapel bleibt. Maria sucht dann eine Polizeistation. Sie geht auf Vorschlag eines Taxifahrers in das Büro der Polizia Ferroviaria auf dem Hauptbahnhofsgelände und erstattet eine Vermisstenanzeige. Das zieht sich eine Zeitlang hin, weil der Computer nicht funktioniert oder nicht online ist (oder beides). Frau Mommsen kann kaum Italienisch, der aufnehmende Beamte nur sehr schlecht Englisch und überhaupt kein Deutsch, was das Verfassen der Anzeige nicht erleichtert. Am Ende hält Maria Mommsen einen blau abgestempelten Wisch Papier in der Hand, auf dem in italienischer Sprache zu lesen ist, dass die siebzehnjährigen minderjährigen Schülerinnen Elisabeth Bernstein und Annette Pölzin, beide wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, am 3. September 2016 gegen 9 Uhr 30 das letzte Mal an der Ecke Piazza Garibaldi/Via Torino gesehen wurden und seitdem verschwunden sind. Maria Mommsen sucht sich ein Hotel und findet ein freies Zimmer im Starhotel Terminus, dort wo die Piazza Garibaldi in den Corso Arnaldo Lucci einmündet. Das Zimmer ist grässlich bis grauslich und teuer, hat aber eine Klimaanlage und einen Kühlschrank, aus dem sie sich eine 450ml-Flasche Cola nimmt und ohne Glas austrinkt. Maria Mommsen weiß nicht, was sie machen soll. Die Situation ist ziemlich verzweifelt. Zwei naive minderjährige Mädchen, abhandengekommen in der europäischen Hauptstadt des Verbrechens. Maria Mommsen kann wenig Italienisch und kennt Neapel nicht. Möglicherweise wäre es richtig, eine örtliche Tageszeitung zu kontaktieren, aber Maria Mommsen weiß weder, wie sie Kontakt mit einer Redaktion aufnehmen könnte, noch überhaupt, ob das ein richtiger Schritt ist. Sie überlegt. Ihr fällt ein, dass in Berlin-Kreuzberg gerade beschlossen worden ist, die Räumung der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule zu verhindern. Etwa 40 Flüchtlinge können dort erst einmal bleiben. Sie bekommen Geld, Duschen und ein Asylverfahren in Berlin. Was hat das aber, verdammt noch mal, mit ihrer eigenen beschissenen Situation zu tun? Maria Mommsen beschließt das Deutsche Honorarkonsulat in Neapel in der Via Medina 40 zu kontaktieren. Am nächsten Morgen, pünktlich um halb, sitzt sie dem freundlichen, aber völlig nutzlosen Generalkonsul Schorsch Schluchz gegenüber, der ihr wenig Hoffnungen macht. Der Generalkonsul ist ein gepflegter Herr aus der Vulkaneifel mit einer wenig beeindruckenden diplomatischen Karriere auf der ganzen Welt und dem unüberhörbaren Wunsch, sich aus dem ungeliebten Neapel so schnell wie möglich wieder zu verpissen. Sie habe doch sicherlich von Angelika Völkel gehört. Maria Mommsen wusste auch das nicht. Neapel sei eine gewalttätige Stadt, in den ersten 6 Monaten habe es schon mehr als 60 Tote gegeben. Ganze Stadtviertel seien in den Händen der organisierten Kriminalität. Sie habe doch sicher schon einmal von der Camorra gehört oder sogar das Buch von Roberto Saviano gelesen. Auf Deutsch. Sehr schön, sehr schön. Das gebe es jetzt sogar als Film und Fernsehserie. Bei 40% Arbeitslosigkeit, die bei Jugendlichen 70% erreiche, habe man hier andere Probleme, als sich um zwei ungezogene Backfische aus Berlin zu kümmern, die sich wahrscheinlich eh nur mit ein paar italienischen Gockeln verabredet hätten und ihren Italienurlaub um ein paar Tage verlängern wollten. Ha ha. Maria Mommsen ist es ihm Gegensatz zu Schorsch Schluchz nicht zum Lachen zumute. Sie verabschiedet sich mit einem steifen Händedruck, geht die paar Meter bis zum Taxi-Stand auf der Piazza Municipio und fährt zum Hotel zurück. Es ist halb zwölf. Statt in ihr Zimmer zu gehen, will sie in einem Reisebüro für morgen früh einen Rückflug nach Berlin finden. Es ist einfacher, als sie denkt. Es ist noch Platz im Flug heute um 1550. Im Hotel checkt sie sofort aus. Einen Augenblick befürchtet sie, für zwei Nächte bezahlen zu müssen, doch der dicke Portier mit Schweißperlen auf der Glatze ist nett und professionell und wünscht ihr eine gute Reise. Das Zimmer steht ab 1400 Uhr am Tag der Ankunft zur Verfügung und muss bis 1100 Uhr am Abreisetag verlassen werden. In einer Stadt, in der nichts funktioniert, zwei Glückstreffer kurz hintereinander. Es ist jetzt kurz vor eins und Maria Mommsen hat noch etwas Zeit. Sie schreibt auf ein Blatt Papier: SEPTEMBER 3, 2016.TWO GIRLS FROM BERLIN MISSING. WE ARE SEARCHING THEM DESPERATELY. WHO KNOWS SOMETHING? CONTACT: bloody.mary@iloveyouall.com. Sie betritt einen kleinen Kopierladen und lässt sich 50 Kopien machen, die sie in den Imbissen und Geschäften in der Via Torino verteilt, wo die Mädchen das letzte Mal gesehen wurden. Etwas Besseres fällt ihr nicht ein. Dann rollt sie mit ihrem Rollkoffer durch die Gluthitze und das Chaos in Richtung Taxistand und Flughafen. Aber eigentlich rollt Maria Mommsen schnurstracks ins Nirgendwo.