Gesualdo Bufalino, der längst zu den Klassikern der italienischen Erzählmoderne zu rechnen ist, fällt aus verschiedenen Gründen aus dem Kanon der Must-Have-Attribute heraus, die heute für Erfolgsautoren gelten. Sicherlich hängt das auch mit seinem Geburtsjahr zusammen („seltsamerweise“ wurde sein hundertjähriger Geburtstag am 15.11.2020 nirgendwo in den Medien eines Wortes gewürdigt), aber wahrscheinlich mehr noch mit Positionen und Denkweisen, die mit der aktuellen globalen Mainstreamkultur kaum vereinbar sind.
Der sizilianische Autor besitzt eine klassische philologische Bildung, die in dieser Qualität heute nur noch schwer anzutreffen ist. Nicht nur Anekdoten, dass er sich mit seinem Schuldirektor auf Lateinisch unterhalten konnte, auch seine große Privatbibliothek und seine Übersetzertätigkeit (zumeist aus dem Französischen) legen ein beredtes Zeugnis dafür ab. Abseits der wohltönenden großen Namen der Literatur übersetzte er meist „zweitrangige Autoren“ und entwickelte schon in frühen Jahren ein extrem professionelles Verhältnis zur Sprachverwendung. Er versuchte sich an einer unmöglichen Rückübersetzung vom Italienischen ins Französische der „Les Fleurs du Mal“ (1857-1868) von Charles Baudelaire und setzte sich mit den letztendlich unlösbaren Problematiken der Übersetzung poetischer Werke auseinander: Bewahrung von Rhythmus und Reim, wörtliche oder freie Übertragung usw.
Bufalino war sehr stark an seine Heimatstadt Comiso in Sizilien gebunden, deren berühmtester Sohn er wurde und die er in zahlreichen seiner Schriften erwähnt. Er hasste Reisen und ist für unser heutiges arrogantes Selbstverständnis ein erfrischend beschränkter und provinzieller Autor, dessen Bescheidenheit und Demut nur wohltun kann. Mit diesem Provinzialismus hat Bufalino gerne auch sarkastisch kokettiert und seine Heimatstadt liebevoll-verächtlich als „schwarzes Loch“, „Schlossgefängnis“, „Wallfahrtsstätte“, „Höhle“, „Mutterleib“, „eiserne Lunge“ etc. tituliert. Anfang der achtziger Jahre, als mit seiner späten Erstveröffentlichung „Diceria dell’Untore“ (1981) ein regelrechter Bufalino-Hype in Italien losgetreten wurde, geriet das kleine Comiso in den Konflikt der Supermächte und das Blitzlichtgewitter der Schlagzeilen, als auf seinem kleinen Militärflughafen „Vincenzo Magliocco“ Nuklearsprengköpfe deponiert wurden. Erst 10 Jahre später im Jahre 1991 wurden diese Atomraketen (Cruise Missiles) wieder abgezogen.
Bufalino war bis Mitte der fünfziger Jahre ein obsessiver Kinogänger und führte darüber in den Jahren von 1934 bis 1955 obsessiv Buch. Gerade für den Stummfilm aus Hollywood und Europa und dann den Autorenfilm von Regisseuren wie Charlie Chaplin, Friedrich Wilhelm Murnau, Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin , Carl Theodor Dreyer, Fritz Lang, Erich von Stroheim (und manche andre mehr) hatte er großes Interesse. Sein Schreibstil wurde entscheidend vom Kino beeinflusst. Für das damals aktuelle Kino der neunziger Jahre hatte er allerdings nur verächtliche Worte übrig und beklagte dessen Krise der Fantasie, den Kult eines unnützen Spektakels und generell zu viel Kalkül bei der Realisierung der Kinoprojekte.
Bufalino war ein großer Jazz-Fan und verehrte neben großen Namen wie Charlie Parker, Louis Armstrong, Duke Ellington und Billie Holiday viele einem größeren Publikum unbekannte Musiker wie Coleman Hawkins, Jack Teagarden, Bix Beiderbecke oder Jelly Roll Morton. In seinem letzten Roman „Tommaso e il Fotografo Cieco“ (1996) beklagt sich – heute in Zeiten von Spotify und Streaming nur noch mit Mühe nachvollziehbar – der Protagonist (Bufalino) darüber, wie sich die Aufnahmetechniken der Schallplatten in nur wenigen Jahrzehnten geändert hätten und merkt trotzig an, dass er die alten Mikrorillenschallplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute am meisten liebe.