An das genaue Datum erinnere ich mich nicht mehr, aber es muss Mitte der siebziger Jahre gewesen sein, vielleicht in einer Silvesternacht 1974 oder 1975. Ich lebte in einer kleinen Stadt in Bayern, die sich heute rühmt, „Großstadt“ zu sein, damals jedenfalls noch erheblich weniger Einwohner und eine industrielle Monokultur hatte, die von einer der größten Autofirmen Deutschlands dominiert wurde, woran sich bis heute substantiell nichts verändert hat. Die Reihenhaussiedlung am Stadtrand mit der nahen Bahnlinie zur Raffinerie bot wenige Schlupflöcher für einen Ausbruch aus der Langeweile der Provinz. Mein Leben war noch ganz und gar bestimmt vom Rhythmus des Schulalltags. Kritische Gedanken zum bayerischen Schulsystem, das auf Leistung und Elite ausgerichtet war, zur bayerischen Politik, die seit eh und je in den Händen einer einzigen Partei und damals auch noch eines einzigen Politikers lag oder gar zur Bundespolitik weit weg im Norden und mit einem schneidigen Hamburger als Kanzler, hatte ich, wenn überhaupt, damals nur als schemenhafte und wirre Ansätze. Ich hatte mein eigenes Zimmer im ausgebauten Dachgeschoss und las damals Supermann-Hefte und Karl-May-Romane. Die ersten Schallplatten, die ich mir in einem nahen gelegenen Supermarkt mit eigener Musikabteilung kaufte, waren von der englischen Glam-Rock-Gruppe The Sweet. Ich war stolzer Besitzer eines Plattenspielers und Kassettenrecorders und, last not least, eines Röhrenradios, mit dem ich an dem besagten Abend wahrscheinlich Bayern 3 hörte, das bei Anlässen wie Sylvester seine Musikauswahl progressiver als sonst gestaltete und auch den ein oder anderen Titel spielte, der nicht in den Hitlisten oder von irgendwelchen Sponsoren vorgegeben war. Als der Sender Crocodile Rock von Elton John spielte, war das wie eine Erleuchtung für mich. Die Musik, die aus einem schlechten Low-Fi-Lautsprecher krächzte, war allgegenwärtig und füllte meinen Kopf und Körper aus. Ich wollte, dass das Lied nie zu Ende ginge. Die hässliche Welt war auf einmal für eine Handvoll Minuten schön und bewegte sich rhythmisch und richtig im Vier-Viertel-Takt. Da gab es nichts zu deuteln oder zu kritisieren, der Crocodile Rock war einfach da und alles andere war weg. Aber den größten Kick gab mir ein Ding namens Crocodile Rock. Der Rock’n’Roll kickte mich aus der mir bekannten Wirklichkeit heraus und zeigte mir Neues, das tiefer ging als Nachdenken und Worte. Und dabei ist Elton Johns Lied zwar nicht dumm, aber doch reichlich banal, und der Sänger gehört wirklich nicht zum Besten, was die Rock-Musik zu bieten hat. Aber um solche reflektierten Wahrnehmungen ging es damals in meinem kleinen Dachzimmer gar nicht. Damals war für einen kleinen Moment alles spontan, instinktiv, notwendigerweise so und nicht anders. Wenn so etwas möglich war, dann waren auch andere Dinge möglich, die als unmöglich galten. Dann war alles möglich. Der Rock’n’Roll konnte nicht nur mich, sondern die ganze Welt verändern. Auweia! Dabei hätte es gereicht, bei dem kleinen nostalgischen Text etwas genauer zuzuhören. Aber die Jahre vergingen und Rock’n’Roll ist gestorben. Suzie hat uns für irgendeinen Ausländer verlassen.
© Wolfgang Haberl 2016