Nora Gomringer hat den diesjährigen, mit immerhin 25000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und ist dadurch einem breiteren Lesepublikum bekannt geworden. Ich zumindest kannte die 35-jährige Schriftstellerin bisher überhaupt noch nicht. Da ist inzwischen eine neue Generation herangewachsen, die ganz anders tickt als wir Hippie-Punker damals. Trotz meines Greisenalters bin ich aber immer noch neugierig genug, habe mir den Siegertext „Recherche“ runtergeladen und gelesen. Im Anschluss recherchiere ich ein bisschen zu Nora Gomringer, erfahre, dass sie Anglistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und schon sieben Gedichtbände bei Voland und Quist in Leipzig veröffentlicht hat, dass sie seit fünf Jahren das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg leitet und vor allem, dass Eugen Gomringer, der Begründer der Konkreten Poesie, ihr Vater ist. Hm, ein Vatertöchterchen also? Gomringers unveröffentlichter Text „Recherche“ ist ein guter, nie langweiliger, recht kurzer Prosatext (16 Seiten) über den dreizehnjährigen Jungen Tobias Gerling, der in einem bürgerlichen Umfeld gemobbt wird, weil er schwul ist und der aus Verzweiflung vom Balkon springt und Selbstmord begeht. Das Thema ist nicht wirklich originell, die Sprache wirkt zum Teil auffallend angebiedert an den heutigen Jungendslang, das etwas fahrige Manuskript ist in einem sehr frühen Stadium und macht den Eindruck, dass es sehr schnell und spontan geschrieben worden ist. Musste da etwas Preiswertes hopplahopp fertig werden? Muss man mit so etwas den Ingeborg-Bachmann-Preis gewinnen? Wir sind mal wieder (so scheint es jedenfalls, ich wäre erleichtert, wenn ich falsch läge) im bekannten Raubtierhaus des deutschsprachigen Literaturbetriebs. Die Löwen und Tiger kennen einander, fressen die harmlosen Kaninchen und die chancenlosen Füchse auf und kungeln rum. Die Heldinnen und Helden meiner Generation haben jedenfalls andere Biographien als die Nora Gomringers. Sie stammt aus einem privilegierten, kultur-bürgerlichen, wohlhabenden Familienumfeld. Die Lyrik muss sie schon zusammen mit der Muttermilch eingeflößt bekommen haben. Prost Mahlzeit! Die Beats in Amerika und ihre Epigonen in Deutschland und anderswo mussten gegen feindliche, reaktionäre, an neuer Kultur uninteressierte Familien und Gesellschaften ankämpfen. Das materielle Sein bestimmt bekanntlich die Produktion von Kultur, wie uns Charlie Marx gelehrt hat. Rolf-Dieter Brinkmann ist gezwungen die geliebte Erstausgabe von „Zettels Traum“ zu verkaufen, um seine Stromrechnung zu bezahlen. Solche Biographien sind mir einfach sympathischer und näher. Nora Gomringer hatte unvermeidlich Papas schützende Hand hinter sich, als sie ihre ersten Lyrikbände veröffentlichte. In jeder Hinsicht vermutlich, ob nun ökonomisch, mit Ratschlägen zum Leben und zur Kunst, mit den richtigen Freunden in einflussreichen Positionen des Kulturbetriebs. Das ist noch nicht einmal ihre Schuld. Denn als Erfolgspoetin lebt es sich halt einfach bequemer.